Sind Fische musikalisch?
BerichtDas Musiktheaterprojekt „Oder:Hive“
Im Juli 2022 fallen in der Oder erste tote Fische auf – bis August ereignet sich ein beispielloses Fischsterben im deutsch-polnischen Fluss. Schnell sind Forschungsstellen und Expert:innen zur Stelle und identifizieren als Auslöser eine Alge, die sich aufgrund eines erhöhten Salzgehaltes im Fluss stark vermehren konnte. Unter anderem das in Berlin ansässige Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) setzt eine ausführliche Untersuchung an. Das Team kommt in dieser Zeit mit einer Gruppe Musiker:innen und Künstler:innen in Kontakt, dem Musiktheaterkollektiv FrauVonDa. Die Gruppe beschäftigt sich gerade mit dem Stör, einer bedrohten Fischart, für die Laichplätze in Süßwasserflüssen wie der Oder von großer Bedeutung sind. Der Kontakt zwischen Wissenschaftler:innen und Künstler:innen vertieft sich, es entsteht das interdisziplinäre Projekt „Oder:Hive. A Sensual River Journey“, das am 11. Januar 2025 in der Villa Elisabeth in Berlin präsentiert wurde.
Ein Wirbeln, ein Grummeln, breite Klangflächen wachsen sich zu veritablen Schreien und tief dräuendem Bass aus, bis die Band um die Sängerin Claudia van Hasselt (FrauVonDa) plötzlich verstummt. Das Kamerabild von Nicolas Wiese (FrauVonDa) auf der großen Wand der Villa Elisabeth nimmt einen tragenden Part ein und versetzt das Publikum an die Oder: Die Kamera ist unter Wasser getaucht und dümpelt in einer flachen, karg wirkenden Flusslandschaft aus Schilfstengeln und wehenden Algen. Von Fischen fehlt jede Spur. Die Musiker des Ensembles, die auf die vier Ecken des Raumes verteilt sind, werfen auf Bass (Roland Fidezius), Schlagzeug (Daniel Eichholz), Gitarre (Schneider TM) und E-Piano/Synthesizer (Łukas Jasturbczak) spärliche Klänge ins Publikum, das auf mäandernden Bühnenelementen (Bühne: Michael Hillmer) Platz genommen hat.
Die Ausrichtung der Musiker:innen ist bewusst dezentriert, das Publikum in der Mitte platziert. Wie der Moderator Dr. Simon Teune – Kooperationspartner vom Sonderforschungsbereich Intervenierende Künste der Freien Universität Berlin – bereits in der herzlichen und sehr nahbaren Einführung betont hat, ist das Publikum jederzeit dazu aufgerufen, Fragen zu stellen oder selbst Gedanken zu äußern. Denn nun gehen die im Raum verteilten Wohnzimmerlampen an und es entspinnt sich ein Gespräch zwischen Martin Pusch und Gabriela Costea, Gewässerbiolog:innen vom IGB, abwechselnd auf Deutsch und auf Italienisch über die Bedeutung von Auenlandschaften für die Gewässergesundheit: Man lernt, dass Auen nicht nur für den Wasserhaushalt des Ökosystems von überragender Bedeutung sind, sondern auch für den Hochwasserschutz, dass sie für die Biodiversität ebenso unverzichtbar sind wie für die Fruchtbarkeit der Böden und im Sommer für niedrigere Temperaturen sorgen. In der anschließenden, angeregt geführten Fragerunde werden dann die Schwierigkeiten der Kompromissfindung zwischen einer wirtschaftlichen Nutzung und der ökologischen Funktion von Auen beleuchtet – und zuletzt, nicht ohne Kritik, die Vorteile der nicht-monetären Bewertung dieser Flächen für die Wirtschaftsleistung benannt.
Die Stehlampen verlöschen wieder und machen der Projektion von Luftbläschen unter der Wasseroberfläche Platz. Eine improvisierte Klanglandschaft imitiert mit Pochen, Streicheln und Hauchen eine stille geheimnisvolle Unterwasserwelt, die ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten hat: Fische – so der Fischexperte Christian Wolter (IGB) – hätten ausgeprägte Sinnesorgane und könnten nicht nur gut hören und sehen, sondern auch ausgesprochen gut riechen. Schall breite sich im Wasser langsamer aus, bei einem höheren Salzgehalt jedoch besonders in hohen Frequenzen. „Das Hören der Fische beginnt, wo unseres aufhört“, spricht Claudia van Hasselt, und die Sitzelemente beginnen zu vibrieren, „wo wir fühlen, können die Fische hören.“ Und in auf- und abschwellenden Vibrationskaskaden werden wir aufgefordert, aus der zitternden Sitzfläche eine Vorstellung der Fischwahrnehmung zu entwickeln.
Die Aufspaltung in hohe und niedrige Frequenzen soll ebenso wie das Schwarz-Weiß vieler Videobilder die physische Disposition von Unterwasserlebewesen spiegeln – alles in enger Abstimmung mit dem großen wissenschaftlichen Kooperationsteam. Weder der künstlerisch Verantwortliche für die Musik, Wojtek Blecharz, noch das eher zahnlose Improvisieren der Band schaffen es aber, das menschliche Ohr über seine Grenzen hinaus zu treiben. Die vier Kompositionen von Blecharz unterscheiden sich nur wenig von den Improvisationen, die vor allem von lauten verstärkten Bassliegetönen und allgemeinem Schwelgen in atmosphärischen Wolken mit geräuschhaften Akzenten geprägt sind. Klangflächen bauen sich zu großem Dröhnen auf, manchmal ergibt sich ein Puls, der von einem Spieler abrupt unterbrochen wird, woraufhin die Struktur in sich zusammenfällt und eher unfreiwillig Löcher in den klanglichen Unterwasserteppich gerissen werden.
![img_7259](https://www.musiktexte.online/media/pages/ausgaben/januar-2025/sind-fische-musikalisch/1e6ea2e243-1737272047/img_7259-1400x-q90.jpg)
Komposition zeigt sich am deutlichsten im zweiten Teil des Abends, der die polnische Seite und den sozial-geschichtlichen Hintergrund in den Fokus nimmt. Der Historiker Karol Chwastek vom Solidarność-Museum und die Philosophin Hanna Schudy, die sich aktivistisch in den Transformationen der Bergbauregion engagiert, werden befragt und beleuchten den für die Menschen so wichtigen, für den Fluss aber schädlichen Bergbau. Vor sich auftürmenden Industrieruinen auf der Videoebene und nach einem etwas kontextlosen Bericht vom Besuch eines KZ in der Region bricht sich der Schmerz um die Zerstörungen von Mensch und Natur in einem Metal-Stück Bahn, bei dem der Schlagzeuger in die Vollen gehen darf und Claudia van Hasselt mit Growl-Gesang die dunklen Seiten der Oder besingt. Nach den durch Handzeichen abgeschnittenen Ausbrüchen hebt wieder die unentwegt glucksende und schmatzende Klanglandschaft der Oder aus zahlreichen Field Recordings an. So windet sich der Abend dahin und erzeugt über vier Stunden einen Rhythmus, wie er der langsam fließenden Oder entsprechen mag.
Am Ende des Abends bleiben vor allem die vielen lehrreichen Gespräche mit den Wissenschaftler:innen und mit dem Publikum in Erinnerung. Zum Ende des ersten Teils etwa wuchsen sich die Fragen des Publikums zu ersten Wortbeiträgen und schließlich zu flammenden Plädoyers aus: gegen das wirtschaftliche Aufwiegen natürlicher Ressourcen; gegen das menschliche Herrschaftsstreben, welches grundsätzlich unsere Beziehung zur Natur verstelle; für die Akzeptanz, dass die Wunde, die wir der Natur zufügten, unsere eigene sei; dass es ums „Healing“ gehe; und zuletzt – im unvermeidlichen Sprung in die höhere Reflexionsstufe – die etwas ratlose Frage, wie die Kunstblase in Berlin-Mitte mit den Gedanken von Karsten von der Oder zu vereinen sei, der angesichts der Renaturierung der Auenlandschaften auf Telegram schreibe, er sei doch kein Frosch.
Zu diesem dank des Moderators Teune hier wirklich sehr angeregt und harmonisch verlaufenden „Diskurs“, dem heiligen Gral der sozial engagierten Musik, klimperte die Band lustig dahin, was neben eher unfreiwilligen Kommentareffekten vor allem den Eindruck erweckte, die Oder flösse an all diesen Diskussionen und Parteinahmen gegen Ego und Naturnarzissmus vorbei und präge ihren eigenen akustischen Raum. Dass ein Fluss diesen Raum in einem Konzertformat – mehr Raum wohl als in der „freien Natur“ – bekommt, ist ein Verdienst der Gruppe FrauVonDa und definiert ein neues Präsentationsformat für die künstlerisch-wissenschaftliche Forschung. Das Potenzial dieser Herangehensweise, nämlich dem Fluss selbst und nicht nur seinen Statthaltern musikalisch eine Stimme zu geben, wurde hier nicht völlig ausgeschöpft. Dass hier eine Leerstelle klaffte, war wohl auch dem Konzeptionsteam FrauVonDa aufgefallen, denn für den Beginn und den Schluss des Abends luden sie das Berliner Frauenkollektiv Otucha ein. Die vier Frauen singen Lieder aus Osteuropa und sind einer traditionellen, ungekünstelten Weise des Singens verpflichtet. In der Tat gehen die alten Melodien mit den Hornquinten im homophonen Satz und vor allem die offenen aus dem Bauch gesungenen Stimmen ins Mark: Die Pflege der traditionellen Volksliedkultur soll dabei Gemeinschaft stiften und körperliche Heilung bewirken. Mit diesem Ansatz ist das Kollektiv zunehmend auf Musikveranstaltungen zu Gast und kann mit seiner Musik eine Sehnsucht bedienen, die durch Dialog allein nicht zu stillen ist: einfach Musik.