Postcolonial Futurism

Bericht

Die biennale aktuelle musik 2024 in Bremen

Heikel? problematisch? gefährlich? – wenn das Thema Postkolonialismus auf dem Verhandlungstisch westlicher Kulturinstitutionen landet, wird es vielen mulmig zumute. Aus Sorge, der Komplexität der Diskurse nicht gerecht zu werden oder gar hegemoniale Macht- und Abhängigkeitsstrukturen versehentlich zu reproduzieren, übt man sich eifrig in Selbstzensur und zieht sich mit Verweis auf die eigene Befangenheit im System der ehemaligen Aggressoren und der daraus vermeintlich resultierenden Schweigepflicht aus der Verantwortung. Nicht so die projektgruppe neue musik bremen e.V. (pgnm), die im November nun schon zum 22. Mal die „biennale aktuelle musik“ veranstaltete: Im Kern des dreitägigen Festivals stand wieder die Ergebnispräsentation der internationalen Künstler:innenkooperation ARTIVISM, die 2022 ihr erfolgreiches Debüt hatte. Dafür wurden visuelle Künstler:innen aus sogenannten Dritte-Welt-Ländern mit Komponist:innen aus Westeuropa zusammengebracht, um multimediale Arbeiten zu entwickeln, die sich mit der politischen Situation ihrer Heimat auseinandersetzen. Den Kurator:innen der pgnm ist die Brisanz des Programms durchaus bewusst – immerhin wird die Dichotomie von Kolonisator und Kolonie zunächst einmal ganz aktiv reproduziert in der Hoffnung, sie letztendlich zu überwinden.

Kontroverse Diskussionen sind keine Seltenheit bei pgnm-Festivals, die schon seit einem Dritteljahrhundert die zeitgenössische Musikszene der Hansestadt maßgeblich prägen. Ursprünglich als interdisziplinäre Tagungen mit begleitendem Konzertprogramm konzipiert, heben die Rezensionen der 90er und frühen 2000er Jahre immer wieder das vergleichsweise große und außerordentlich diskursfreudige Publikum hervor, das sich rege an den teils mehrstündigen Gesprächsrunden beteiligte. Zumeist bewegten sich die Oberthemen im Milieu musikspezifischer Fragestellungen, wie etwa Zeitlichkeit (1994), Raumerfahrungen (1999) oder maschinelle Reproduktion (2001). Ganz explizit und ohne Scheuklappen ging man Fragen von Identität und Herkunft schon in der Tagung von 1992 nach. „Das Eigene und das Fremde. Musik zwischen Aneignung und Enteignung“ lautete der Titel des Unterfangens, das Ludolf Baucke damals in seinem Bericht für die NZfM als „Aufprall der Kulturen“ und „Dialoge mit dem Anderen“ charakterisierte. Dabei zeichneten sich letztlich „schöpferische Prozesse der Synthese“ als potenzielle Exitstrategien aus der „Ausweglosigkeit der Okzidentalisierung“ ab. 30 Jahre später, im Jahr 2022, wurde diese Hypothese mit ARTIVISM auf die Probe gestellt.

Selbstverständlich gelten heutzutage andere Maßstäbe: Die diversen Ansprüche an eine transkulturelle, politisch gleichermaßen korrekte wie subversive Kunst scheinen exorbitant hoch und kaum miteinander zu vereinbaren. Gerade jene artifizielle Versetzung von Motiven, Ideen und Fragmenten nicht-westlichen Kulturguts in einen europäischen Kunstkontext, die die bolivianische Soziologin Silvia Cusicanqui in Anlehnung an Deleuze und Guattari als Deterritorialisierung kritisiert, begegnet als eines der Kernprobleme der neueren postkolonialen Kulturtheorie. In ihrem Buch „Sociología de la Imagen“ (2015) beschreibt sie eindrücklich, wie durch diesen Vorgang der Musealisierung die lebendige Praxis von einem Artefakt abstrahiert wird, um es für das westliche Publikum konsumierbar zu machen. Auch die feinfühligste und reflektierteste Kuration kann diesen Missstand nicht restlos tilgen, sie kann ihm nur insofern Rechnung tragen, als sie den eingeladenen Künstler:innen ein möglichst hohes Maß an gestalterischer Freiheit zugesteht. Dann aber – zumindest, wenn man dem Kulturtheoretiker Homi K. Bhaba folgt – besteht die Chance, dass die Bühne (in diesem Fall die beiden Säle der Schwankhalle Bremen, in denen ein Großteil des Festivals stattfand) zu einem „dritten Raum“ wird, wo Kulturen miteinander in Dialog treten, sich auf stets neuartige Weise hybridisieren und dadurch überkommene Machtdispositive spielerisch dekonstruieren.

Nachdem sich 2022 drei armenische Videokünstler:innen mit den verheerenden Auswirkungen des Bergkarabachkonfliktes auf die Zivilbevölkerung auseinandersetzten, stand nun Kolumbien im Fokus von ARTIVISM. Interessanterweise rückten die soziopolitischen Themen, die man mit dem Land in erster Linie assoziiert – Drogenhandel, Bürgerkrieg, Korruption oder auch jüngst die diplomatische Krise mit Venezuela – in den Hintergrund. Vielmehr entschieden die Teams unabhängig voneinander, das Verhältnis von Mensch und Natur zu beleuchten. Entsprechend zeichneten sich die Arbeiten auch weniger durch konkrete Problembenennung und Lösungsaufzeichnung aus – eigentlich Kernelemente des Artivism-Konzepts in der Definition des Kurators Florian Malzacher, dessen Vortrag den Performances voranging –, sondern suchten eher mit atmosphärischen Mitteln, mal subtil und hintergründig, mal bildgewaltig und halluzinatorisch, für diverse Themen wie Naturkatastrophen, Schamanismus oder tierische Migration zu sensibilisieren.

Mit dem Film „Echoes of Armero“ setzte der Fotograf Carlos Saavedra ein audiovisuelles Denkmal für die mindestens 25.000 Todesopfer, die der kataklysmische Ausbruch des Nevado del Ruiz am 13. November 1985 forderte und zu denen auch 35 Mitglieder seiner eigenen Familie zählten. Nachdem die zuständigen Behörden seismographische Warnungen in den Wind schlugen, wurden die Einwohner Armeros von einem Lahar überrascht, einer durch die Eruption ausgelösten gewaltigen Schlammlawine, die sich die 41 km vom Gipfel des Vulkans durch ein Flusstal bahnte und die Stadt unter sich begrub. Saavedras Film ist allerdings alles andere als ein Katastrophenspektakel: Zusammengesetzt aus Drohnenaufnahmen vom Gebirge, evokativen Schwarzweißfotografien und in den Ruinen von Armero gedrehten Videoporträts von Überlebenden, live untermalt von einem meditativen und voluminösen Soundtrack der französischen Klangkünstlerin Gaël Segalen, handelt es sich mehr um ein Monument des Verstummens angesichts einer erbarmungslosen Naturgewalt.

Um diese Kluft zwischen Mensch und Umwelt zu überwinden, sucht Tau Luna Acosta alternative Naturzugänge jenseits des westlichen Ausbeutungs- und Unterwerfungsschemas. In Acostas multisensorischer Praxis – Klanginstallationen, Textilarbeiten, Räucherwerk – findet in letzter Zeit häufig Magnetit Verwendung. Dieses natürliche Mineral, das Menschen zur Eisengewinnung, Bakterien zur Fortbewegung und – eingelagert in deren Schnäbeln – Zugvögeln zur Orientierung dient, wurde in der Performance „Gaia is a cell. About listening to migrant amulets“ akustisch ausgelotet: Mittels einer Induktionsspule erzeugte das magnetische Gestein Summtöne, die von Julia Hanadi Al Abed verstärkt, mit Effekten verfremdet und im großen Saal der Schwankhalle eindrucksvoll verräumlicht wurden. Indem wir den unsichtbaren Magnetfeldern zuhören, statt sie zu unserem Vorteil zu manipulieren, können wir, so zumindest der Anspruch der beiden Künstler:innen, auf „nicht-hierarchische Weise“ mit anderen Lebewesen in Verbindung treten.

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Tau Luna Acosta (links) und Julia Hanadi Al Abed

Genau darum ging es auch Astrid Gonzáles und Dave Phillips: „What other senses do we use when we communicate with non-human beings?“, eine wortlos-surreale Mehrkanalvideoprojektion, setzte sich mit Ethnobotanik und der Naturheilkunde indigener Regenwaldkulturen auseinander. Dafür inszenierte Gonzáles, Installationskünstlerin aus Medellín, einen fiktiven Schamanen, versunken in tranceartigen Bewegungsritualen, umhüllt nicht nur von wuchernder Dschungelflora, sondern auch von Phillips‘ stetig crescendierender Collage von Insektengeräuschen und, von Acosta spontan beigesteuert, dem Duft von Salbeirauch.

Alle drei Arbeiten exemplifizieren den Wandel, den politische Kunst im Zuge ihrer Internationalisierung genommen hat: Während gerade in Deutschland das Bild einer lauten, polemischen und vor allem emphatisch negativistischen Avantgarde nach wie vor die primäre Assoziation darstellt, wird die globalisierte Festivalbühne von ganz anderen Werten dominiert: Eine gewisse Besonnenheit ist häufig spürbar und eine subtilere Herangehensweise, die konkrete Forderungen hinter Fiktionen oder scheinbar harmlosen Beobachtungen birgt. Statt voyeuristischer Präsentation von Leid und Elend findet sich gerade bei der Bearbeitung von Missständen eine positive Grundhaltung und Zukunftsgewandtheit – „Futurism“ ist mehr als ein Modewort!

Damit einher gehen allerdings auch zusätzliche Herausforderungen der Rezeption: Ohne den jeweiligen Kontext, den auch Programmhefttexte selten erschöpfend darstellen, sind solche Arbeiten nahezu unmöglich zu entschlüsseln. Häufig wird dies vom westlich-konsumorientierten Publikum oder den Werkautonomieadvokaten als „Problem“ der zeitgenössischen Kunst dargestellt, doch unter den richtigen Bedingungen kann diese Offenheit eine diskursive Eigendynamik erwirken. Entsprechend hatte die pgnm drei volle Stunden für den zwanglosen Austausch mit den Künstler:innen eingeplant. Im geselligen Stuhlkreis hatten diese auch die Möglichkeit, ihre Portfolios zu präsentieren, wodurch sich die neuen Werke als Fortschreibungen umfangreicher künstlerischer Forschungsprojekte offenbarten. Zugegeben, Fragen der Ästhetik traten angesichts der Fülle von Sachthemen in den Hintergrund. Aber vielleicht sollte gerade dies als Stärke gegenwärtiger politischer Kunst gewertet werden: zurücktreten zu können und Katalysator zu sein für genuinen Wissenstransfer mit Perspektiven jenseits der „massenmedialisierten“ Dauerkrisen.

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Gesprächsrunde mit den ARTIVISM-Künstler:innen
v.l.n.r.: Dave Phillips, Tau Luna Acosta, Astrid Gonzáles, Carlos Saavedra, Gaël Segalen, Julia Hanadi AlAbed

Es darf natürlich nicht unerwähnt bleiben, dass um den ARTIVISM-Block herum auch ein Festival für zeitgenössische Musik stattfand. Angesichts des Umfangs von ARTIVISM und der für die pgnm ungewöhnlichen Dichte an Uraufführungen – 2020 wurden coronabedingt statt eines Festivals die Fördergelder in eine Reihe von freien Kompositionsaufträgen investiert – gab es diesmal kein übergreifendes Thema. Dennoch zeichnete sich in vielen Stücken eine gemeinsame Tendenz ab: Im Gegensatz zu den Präsentationen der Künstler:innenkooperationen fand sich in den übrigen Konzerten ein geradezu romantischer Hang zur Überwältigung, zum Bombast und zu akustischer Saturation.

Dave Phillips‘ Soloperformance „Live Action“ (2024, UA) beim Eröffnungskonzert im Bremer Sendesaal zeigte den Künstler, eingetaucht in infernalisch rotes Licht, gefangen in neurotisch-konvulsiven Bewegungen und eingebettet in einen Soundtrack unheimlicher Stimm- und Atemgeräusche, immer wieder mit voller Kraft und maximaler Verzerrung in ein Loop-Gerät schreien bis zur totalen Übersättigung. „Rituelle Protest-Musik“ nennt Phillips diese Grenzerfahrung, die dem Menschen mit äußerster Brachialität seine verdrängte animalische Seite vorführt.

Ähnlich sensorisch überfordernd war auch der Beginn von Ui-Kyung Lees „Das zweite Land: from far far far away“(2024, UA). Auf drei Videoprojektionen entfalteten sich, immerfort beschleunigend, abstrakte Topographien und digitale Glitches, die ihre Entsprechungen in einem rasenden Noise-Soundtrack fanden. Den empfing das Publikum, als zusätzlichen Beklemmungsfaktor, per Silent-Disco-Kopfhörer. Als das Chaos in der Mitte plötzlich abriss und wir uns in einer S-Bahn Richtung Stuttgarter Speckgürtel – Lees, wie er sagt, Heimat in der Fremde – wiederfanden, erschien auch die Realität als schier unzumutbare Reizüberflutung.

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Ui-Kyung Lee: Das zweite Land: from far far far away

Solche gab es noch einige, etwa in Eric Wubbels „Psychomechanochronometer“ (2013/2015), einer höllisch schweren Klavierstudie über Metrik und Irregularität, oder Alexander Schuberts Internet-Psychose „Wiki-Piano.Net“ (2018), beide makellos interpretiert vom amerikanischen Pianisten Robert Fleitz. Den emotionalen Höhepunkt allerdings stellte Gaël Segalens elektroakustische Komposition „Cœurs Manifestes“ (2022/2024, UA) dar: verzerrte Stimmen, aufgelöst in einer diffusen Masse aus Synthesizerklängen und industriellen Feldaufnahmen, 15 Minuten dystopisch-verzweifelter, kaum verbalisierbarer Intensität.

Den krönenden Abschluss bildete „Pianoise“ (2021) von Emmanuel Lalande. Sechs Pianist:innen spielten über 40 Minuten diverse Tremolopatterns auf sechs Pianos, die im Zwölfteltonabstand gegeneinander verstimmt sind. Dadurch entstand ein die diskrete Tongebung des Klaviers transzendierendes Rauschen und Dröhnen, die einzelnen Anschläge gingen unter in einem hypnotischen Kontinuum von verblüffender Schönheit. Wenn bei der Klimax des Stückes geschickte Lagenwechsel den Eindruck stufenloser Glissandi hervorriefen, war zwischen realen Klängen und akustischen Halluzinationen zu unterscheiden nicht mehr möglich – eine bewusstseinserweiternde Erfahrung im wahrsten Sinne des Wortes.