Laudatio für Adriana Hölszky
Redezur Verleihung des Robert Schumann-Preises für Dichtung und Musik
Die Verleihung eines Kompositionspreises, der den Namen Robert Schumanns im Titel trägt und zugleich die Formulierung „für Dichtung und Musik“ enthält, ist, das möchte ich zunächst feststellen, eine ganz wunderbare Sache. Und noch dazu lässt sie an sehr wichtige Erfahrungshorizonte und ästhetische Kontexte denken, die dazu verhelfen können, das Schaffen der diesjährigen Preisträgerin Adriana Hölszky zu würdigen. Dass ich dazu heute einen Beitrag leisten darf, ist auch für mich eine Freude.
Die Wendung „für Dichtung und Musik“ legt es zunächst nahe, an eine Tatsache zu erinnern, die wir, um der neueren Musikgeschichte überhaupt gerecht zu werden, kaum deutlich genug betonen können und die dementsprechend auch den Ausgangspunkt meiner kleinen Laudatio bilden soll: Ich meine die Tatsache, dass der Dialog mit anderen Künsten – und besonders mit der Literatur – für die Entwicklung der neueren und neusten Musik ein außerordentlich wichtiger Faktor ist (substanzieller und hilfreicher als das früher oft überbetonte Fortschrittsparadigma, das im Musikdiskurs jahrzehntelang zu manchen Oberflächlichkeiten geführt hat).
Und unter diesem Aspekt des Dialogs mit anderen Künsten gehört zweifellos gerade Robert Schumann zu den wichtigsten Impulsgebern: Er war ein Komponist, der in hellsichtiger Weise darüber nachdachte, inwiefern Musik von neuen Anregungen profitieren kann. Zu denken ist etwa an Schumanns schönen Satz, er habe durch den Dichter Jean Paul mehr Kontrapunkt gelernt als durch die Beschäftigung mit anderer Musik. Aber zu denken ist auch an ganz konkrete Beispiele aus Schumanns Schaffen. Erwähnt sei hier nur ein besonders ungewöhnliches Beispiel, nämlich das von vielen Fermaten erfüllte Klavierstück „Der Dichter spricht“ am Schluss der „Kinderszenen“ op. 15. Es agiert völlig textlos und verkörpert gerade damit eine umso radikalere Form des Beobachtens und Reflektierens; und dabei scheint die Frage, auf welchem Wege Dichtung sich artikuliert, ständig im Raum zu stehen. Nicht zufällig wurde Schumanns „Der Dichter spricht“ von Komponist:innen der neueren und neusten Zeit, wie etwa Luigi Nono und Mark Andre, als Referenzpunkt für eigene ästhetische Überlegungen gewählt.
Es ist, wie sich hier andeutet, sehr gut möglich, bei Schumann beginnend eine Linie ebenfalls von Literatur und ihren Strategien inspirierter namhafter anderer Komponist:innen zu zeichnen. Zu dieser bis in unsere Gegenwart reichenden Linie gehören Persönlichkeiten wie Debussy und Ravel, aber (neben Nono) auch etwa Pierre Boulez, György Ligeti, Bernd Alois Zimmermann, Heinz Holliger, Wolfgang Rihm oder Rebecca Saunders – und ganz sicher auch Adriana Hölszky. Mit allen hier Genannten (unter denen ja gleich mehrere Schumann-Preisträger der hiesigen Akademie sind) erscheint sie darin geistesverwandt, dass ihre Hinwendung zur Literatur geradezu obsessiv ist. Das meint ganz konkret eine Leidenschaft im Entdecken von Gestaltungsmöglichkeiten, die von traditionellen Formen der Textvertonung abweichen. Ermutigt wurde die Komponistin dabei offenbar nicht zuletzt durch ihren von ihr immer wieder erwähnten Lehrer Stefan Niculescu, einen hierzulande noch viel zu wenig bekannten Komponisten, der sie im Studium in Bukarest mit einem außerordentlich breiten Spektrum von ästhetischen und konzeptionellen Ansätzen konfrontierte und dadurch herausforderte. Und im Rahmen ihrer Ausbildung waren, so berichtete sie mir, nicht nur die Philosophie von Nietzsche oder Werke von Komponisten wie Boulez, Ligeti, Kagel oder Nono Teil ihres Lerninhalts, sondern in umfassender Weise auch die Musik Schumanns: Als ausgebildete Pianistin und Kammermusikerin hat sie einen substanziellen Teil seiner besonders ungewöhnlichen Werke sogar selbst aufgeführt. Und nachdrücklich hat sie Schumanns Scharfsinn betont, der sich beim Umgang mit Dichtung ganz besonders zeigt und auch deren nicht offensichtliche Momente im Blick hat.
Wenn wir in Hölszkys bisherigem Gesamtschaffen, das nun längst selbst zum Lehrinhalt an Hochschulen und Universitäten geworden ist, die auf Literarisches bezogenen Kompositionen betrachten, so gibt es darin mindestens drei unterschiedliche Kategorien der Relation von Musik und Dichtung, die sich meist nicht auf ganze Kompositionen, sondern eher auf bestimmte Teile von ihnen erstrecken: Die erste und zweifellos wichtigste Kategorie bilden unterschiedliche Situationen, die von Überlagerungen, ungewöhnlichen Schattierungen, aber teils auch von Dissoziationen oder der Zersplitterung dichterischer Sprache geprägt sind. Die zweite Kategorie zeichnet sich durch die deutliche Präsenz literarischer Texte aus. Und die dritte ist dadurch bestimmt, dass Texte zwar Relevanz besitzen, jedoch selbst gar nicht zu hören sind. Letzteres schließt sogar ein Stück ein, das in Hölszkys Werkverzeichnis in der Rubrik „Musiktheater“ geführt wird, nämlich die Komposition „Tragödia (der unsichtbare Raum)“: ein Stück für Ensemble und Bühnenbild, das Letzterem die Rolle überträgt, die in den klanglichen Konfigurationen aufblitzenden, auf eine konkrete Textvorlage verweisenden Expressionen und Ahnungen aufzugreifen und zu reflektieren. „Man spürt hier“, so äußerte die Komponistin selbst, „permanent die Abwesenheit von Figuren, ist immer in Erwartung, dass jemand erscheint, aber diese Erwartung wird bis zum Schluss hingehalten – und schließlich nicht erfüllt.“
Obwohl meine drei Kategorien sehr allgemein sind, lässt sich mit ihnen das Spezifische und Perspektivenreiche des Komponierens von Adriana Hölszky skizzieren (einschließlich einiger deutlicher Differenzen zu den Ideen der eben erwähnten anderen Komponist:innen). Besteht es doch darin, dass ihre Werke immer wieder fließende und oft überraschende Übergänge zwischen diesen Kategorien bieten, um gleichzeitig vielfältige andere Arten von „Übergängigkeit“ zu etablieren. Eine von ihnen besteht in der Idee, dass Sänger:innen reich schattierte nicht-vokale Klänge erzeugen und so die Grenzen zwischen dem Vokalen und Instrumentalen verschwimmen. Eine weitere liegt in der Bevorzugung oder Neukreation höchst ungewöhnlicher Besetzungen, eine dritte in der Tendenz, auf existenzielle Texte dergestalt zu reagieren, dass mit musikalischen Mitteln ambivalente, schwankende, groteske oder höchst instabile Akzente gesetzt werden.
Wie konzeptionell wichtig solche Formen des Übergängigen sind, sei an zwei sehr unterschiedlichen Werken angedeutet, die beide gerade im Dialog mit Literatur entwickelt wurden. Das erste ist das im Jahre 1988 bei der ersten Ausgabe der Münchener Biennale für Musiktheater uraufgeführte Werk „Bremer Freiheit“, basierend auf einem Theaterstück von Rainer Werner Fassbinder. Eine der Kernideen dieses Werkes, das die Komponistin nicht Oper nennt, sondern mit dem sprechenden Titel „Singwerk“ versah, liegt darin, von den Bühnenfiguren sowohl eine stupende Fülle von vokalen Darstellungsvarianten als auch das Agieren mit höchst ungewöhnlichen Klangerzeugern zu erwarten. Der Untertitel „Singwerk“ deutet mithin darauf, dass dem Agieren auf vokaler Ebene die Führungsrolle zuwächst. Hieraus aber resultiert zweierlei: Zum einen erwächst daraus eine sehr ungewohnte Form von Körperlichkeit. Zum anderen wird der grausamen Handlung eine noch absurdere Färbung gegeben und das Stück umso deutlicher über ein Sozialdrama hinausgehoben.
Auch bei meinem zweiten Beispiel, der auf Eugene Ionescos „Die Stühle“ bezogenen Komposition „Message“, geraten enorm vielfältig agierende Vokalstimmen in ein schillerndes Wechselspiel mit unterschiedlichen anderen Klangmomenten. Das geschieht hier sowohl durch elektronische Klänge und Verfremdungen als auch durch Klänge, die sich einem aus Glas gebauten, ebenso fragilen wie höchst suggestiven Instrumentarium verdanken. Letzteres liegt wiederum in den Händen der Vokalist:innen, es sorgt in diesem Falle für eine geradezu skurrile Wirkung. Sie vergegenwärtigt, dass eine Botschaft nicht auf konventionellen Wegen zu vermitteln ist, und lässt dabei den Akt des Vermittelns selbst zum Thema werden.
Beide Stücke sind nicht zuletzt darin typisch für Adriana Hölszky, dass sie literarisch anspruchsvolle Texte zwar reflektieren, sich aber von schlichter Linearität deutlich wegbewegen. Werden doch die erzählerischen Elemente der Kompositionen durch energiereiche Momente mit gleichsam zentrifugalen Kräften ausgestattet. Dieser Aspekt verdient eine besondere Hervorhebung. Denn wohl kaum etwas in Hölszkys Komponieren ist so wichtig und gleichzeitig so vielfältig wie jene Wege der Energieentfaltung, die sich als fortwährend wechselnde Situationen eines inneren Brodelns beschreiben lassen. Zu ihnen gehört es, dass die Zeit- und Strukturgestaltungen über klassische, zielgerichtete Dramaturgien hinauswachsen.
Der sich in den eben genannten textbezogenen Werken zeigende ungewöhnliche Umgang mit Bedeutung hat gewiss auch mit dem zu tun, was die vorhin benannte, von Schumann ausgehende Linie des ebenso obsessiven wie bewussten Umgangs mit Dichtung im Kern meint. Richtet dieser Umgang sich doch auf jene Dimension literarischer Werke, die darin besteht, ganz eigene Wege der Gestaltung einzuschlagen und ihrerseits auch anzuregen. Es geht um Eigenschaften dichterischer Kunst, die mit dem logisch nicht Fassbaren, mit tiefen Ambivalenzen oder abrupten Wechseln zu tun haben können, doch ebenso mit eigenwilligen Gesten, Formen der Zeitgestaltung, Stillständen oder überbordender Komplexität – oder eben mit dem, was einst Robert Schumann bei Jean Paul entdeckte, also einer ganz eigenen, ihrerseits aussagerelevanten Form von Polyphonie. Und gerade in den auf Dichtungen bezogenen Werken der Komponistin geht es (in einer wiederum als obsessiv zu bezeichnenden Weise) um jene Form des Übergangs, die Paul Valéry so schön als „Schwelle zwischen Klang und Sinn“ bezeichnete.
Man mag hier wohl auch an das denken, was der Philosoph Albrecht Wellmer in seinem 2009 erschienenen Buch „Versuch über Musik und Sprache“ ausgeführt hat, ausgehend von Roland Barthes und dessen vor allem auf das Körperliche und Gestische gerichteten Gedanken explizit zu Robert Schumanns Musik. Um dem „Weltbezug“ des Komponierens gerecht zu werden und Musik überhaupt „als Sprache zu verstehen“, sollte sich, so Wellmer, unsere Wahrnehmung auf jenen „Hohlraum“ richten, der zwar als „Sinnschicht“ zu bezeichnen ist, der sich aber „nur durch das Hinzutreten eines anderen Mediums ans Licht bringen und artikulieren“ lässt.1 Dieser Prozess des Artikulierens erscheint allerdings bei Hölszky, in einer Schumanns „Kreisleriana“ nicht unverwandten Weise, zugleich als Mittel der Erhellung und der Neuerschließung, so dass die Frage, ob das eine Medium dem anderen dient oder eher umgekehrt, sich erübrigt. Dementsprechend geht es, wenn Hölszky komponierend auf andere Künste (wie vor allem auf Dichtungen) reagiert, um eine Form des Ans-Licht-Bringens, die sich von der Illusion einer allzu einfachen Präsenz von „Sinnschichten“ wegbewegt.
Umso mehr kann man auch das besonders ausgeprägte Interesse von namhaften Choreographen wie Martin Schläpfer und Joachim Schlömer gerade für ihre Musik verstehen. Und dieses Interesse ist ein gegenseitiges: „Der menschliche Körper ist das ‚Instrument‘ des Tänzers“ und „Es gibt eine Art von geheimer Kommunikation zwischen dem Klang und der Bewegung“, lauten zwei wichtige Sätze der Komponistin zu ihrer eigenen Vorliebe für bestimmte Arten des Tanztheaters. Resultat ihrer Kooperation mit Schläpfer sind dementsprechend zwei gemeinsame Arbeiten, „Deep Fields“ und „Roses of Shadow“ überschrieben, deren choreographische Seite sowohl die bloß anspielenden als auch die anästhetischen Momente der musikalischen Gestaltungen zu reflektieren vermag. Es geht um multiperspektivische Dialoge unterschiedlicher Kunstformen, zu denen im Falle der als „Klangchoreografie“ bezeichneten Arbeit „Roses of Shadow“ die Kunstform der Dichtung sogar noch hinzutritt. Von allen einfachen Formen von Greifbarkeit hält sich dies denkbar weit entfernt – und wirkt umso suggestiver. Und dabei scheint die eine Kunstform, wie es die Komponistin im Werkkommentar selbst formuliert, zum Katalysator der anderen zu werden.
Befasst man sich eingehender mit Hölszkys Skizzen zu ihren Kompositionen, so stößt man auch in jenen bei weitem dominierenden Fällen, die sich nicht auf das Tanztheater richten, auf eine bemerkenswert große Zahl von Studien gerade zur Energie- und Raumauffächerung. Und die Absicht, gerade durch Aspekte wie diese über klassische, zielgerichtete Dramaturgien hinauszuwachsen, ist dabei fast überall präsent.
Fragt man nach den Inspirationen für diese Gestaltungen wie auch für die wechselnden Themenstellungen der Stücke, dann geraten neben dem schon erwähnten literarischen Interesse auch noch einige weitere Vorlieben von Adriana Hölszky ins Blickfeld. Genannt seien hier nur zwei von ihnen: erstens ihre Begeisterung für eine weitere benachbarte Kunstform, nämlich für die Malerei, zweitens ihr großes Interesse für einige Praktiken und Erfahrungsmöglichkeiten in unterschiedlichen naturwissenschaftlichen Feldern. Aus beidem resultieren tatsächlich Inspirationen für einige ihrer Werke.
Für naturwissenschaftliche Impulse, die nach Hölszkys eigener Auskunft auf berufliche Orientierungen und entsprechende Denkweisen in ihrem Elternhaus zurückzuführen sind, ist das an Aktivitäten der Bienen orientierte Geigenstück „Klangwaben“ ein viel beachtetes Beispiel, das eine ganz ungewöhnliche Verknüpfung von periodischen und aperiodischen Elementen enthält. Und im Bereich der Vokalmusik ist an die 36-stimmige Chorkomposition „Formicarium“ zu denken, die vom Verhalten der Ameisen und von der Schwarmtheorie inspiriert wurde. Man erlebt Kompositionen wie diese als vielfältig aufgefächertes Zusammenwirken gegensätzlicher Kraftfelder, in denen es eine genau disponierte Dramaturgie aus kontinuierlichen und diskontinuierlichen Elementen gibt.
Auch der Begriff des „Kraftfelds“ ist mit guten Gründen seit längerem im Schrifttum über Hölszky geläufig. Gerade das mit ihm Beschriebene gilt gewiss aber auch für einige Werke mit Text- oder Musikbezügen, hier zusätzlich darauf beziehbar, dass diese sich zugleich als Gefüge sehr unterschiedlicher Präsenzgrade von semantischen oder auratischen Elementen manifestieren.
Und gerade die Varietät von Präsenzgraden trägt oft dazu bei, zusätzliche Interpretationsmöglichkeiten zu eröffnen, die den früher gängigen Umgang mit Dichtung substanziell erweitern. Ich nenne als Beispiel Hölszkys mehrfache kompositorische Beschäftigung mit Dostojewski, kulminierend in der 2014 in Mannheim uraufgeführten Oper „Böse Geister“. Indem es sich von herkömmlichen Wegen der Vertonung fernhält, stößt ein Werk wie dieses zu jener eigentümlichen Mischung von existenzieller Ernsthaftigkeit und unterschiedlichsten Graden des Grotesken vor, die in manchen eindimensionalen Dostojewski-Deutungen oder -Übersetzungen weithin unterbelichtet bleibt. Und dass die Komponistin für ihr Stück den Titel der neuen, von Svetlana Geier stammenden Dostojewskij-Übersetzung wählt (der alte lautete bekanntlich „Dämonen“), deutet auf ihre Sensibilität für die Vielfalt an sprachlichen Zwischentönen, auf die es sowohl in dieser Neuübersetzung als auch in ihrer Oper besonders ankommt.
Die Dominanz der Fermaten in Schumanns Klavierstück „Der Dichter spricht“ hat Luigi Nono ausdrücklich mit den Momenten des Innehaltens in Dichtungen von Friedrich Hölderlin und Edmond Jabés verglichen. Das sei hier deswegen erwähnt, da Adriana Hölszky vor ein paar Jahren ihre Begeisterung für Luigi Nonos viel diskutierte Form des Umgangs mit Hölderlins Dichtungen zum Ausdruck brachte. Konkret ging es dabei um Nonos Entscheidung, in seinem Streichquartett „Fragmente – Stille. An Diotima“ auf erklingende Verse oder Worte von Hölderlin zwar ganz zu verzichten, doch in fast provozierender Weise zugleich darauf zu zielen, Hölderlins eigenwillige Sprachstrukturen mit rein instrumentalen Mitteln zu reflektieren.
Nono hat geäußert, für ihn seien Texte Mittel der „Erhellung“ und zugleich der „Provokation“.2 Doch auch in Hölszkys Schaffen gewinnt, wie mir scheint, das „Sprechen“ von Dichtungen oft einen zugleich erhellenden und provozierenden Duktus. Und gerade das wird vor allem mit klanglichen oder strukturellen Mitteln von Musik realisiert. Stets von Neuem geht es darum, unsere Wahrnehmung durch ein Gefüge klanglicher Ereignisse sowohl herauszufordern als auch gleichsam zu verlocken. Es vollzieht sich in einer Weise, die mit schlichten Begriffen wie „Assoziation“ oder „Illustration“ keineswegs hinreichend beschrieben werden kann.
Ein signifikantes Beispiel hierfür, das ich abschließend erwähnen möchte, da es zugleich auch noch eine andere wichtige Facette von Hölszkys Komponieren erkennen lässt, bietet ihr Stück „Hängebrücken“; ist dieses doch in seiner Grundstruktur von Italo Calvinos Roman „Die unsichtbaren Städte“ erfüllt. Dieser Bezug wird dadurch reflektiert, dass es im Kern ein „Polywerk“ ist, das gleich zwei Streichquartette miteinander kombiniert und auf ebenso sprechende wie expressive Weise eine außerordentliche Komplexität sowie einen ganz neuen Perspektivenreichtum erzeugt. Aber mit verschiedenen Graden von Sichtbarkeit agiert dieses Doppelquartett auch insofern, als in das dichte Gewebe bestimmte Kristallisationspunkte eingelassen sind, die als Bezüge zu einschlägigen Gesten von Niccolò Paganini oder von Franz Schubert identifizierbar sind. Man kann das wiederum von unterschiedlichen Kraftfeldern bestimmte Spiel, das daraus resultiert, unschwer auch als Reflexion über die Potentiale von Schuberts eigener Musik verstehen. Es macht jene gleichsam „antiklassische“ Tendenz erlebbar, die früher, als man Schubert beharrlich verharmloste, so oft übersehen wurde. Adriana Hölszkys Umgang auch mit der musikalischen Tradition ist, wie dieses Beispiel andeutet, jenem mit der Dichtung sowie mit anderen Künsten in vieler Hinsicht vergleichbar. Das heißt auch, die Hörenden zu Entdeckungsreisen einzuladen, die oft in unbekanntes Terrain führen oder aber ein nur scheinbar bekanntes Terrain völlig neu betrachten oder beleuchten.
Im Falle der Schumann-Preisträgerin Adriana Hölszky, der ich sehr herzlich zu ihrer Auszeichnung gratulieren möchte, trägt nicht zuletzt auch diese Tendenz zur Originalität und Vitalität ihres Komponierens wesentlich bei.
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Jörn Peter Hiekel hielt die Laudatio zur Verleihung des Robert Schumann-Preises für Dichtung und Musik durch die Akademie der Wissenschaften und der Literatur am 19. November 2024 in Mainz.
1 Albrecht Wellmer, „Versuch über Musik und Sprache“, München 2009, S. 24.
2 „Eine Autobiographie des Komponisten. Enzo Restagno mitgeteilt“, in: „Luigi Nono. Dokumente – Materialien“, hrsg. von Andreas Wagner, Saarbrücken 2003, S. 23–138, hier: S. 79.