Klänge von überall her
AnalyseFremdmaterial im Werk von Giacinto Scelsi
Die Musik von Giacinto Scelsi sorgt immer noch für Überraschungen. Seit der Öffnung des Archivs der Fondazione Isabella Scelsi im Jahr 2009 ist ein großer Teil von Scelsis Tonbandaufnahmen in Rom zugänglich gemacht worden. Man kann sie dort in digitalisierter Form hören und mit den Partituren vergleichen, die seine Mitarbeiter:innen, allen voran Vieri Tosatti (1920–1999), auf dieser Grundlage geschrieben haben. Scelsi begann nach seiner Lebens- und Schaffenskrise zunächst mit der Improvisation am Klavier. Folgt man den Angaben der Werkverzeichnisse Scelsis1, dann entstanden die meisten seiner Klavierwerke zwischen 1952 und 1956.2 Außer auf dem Klavier spielte Scelsi auch auf der Ondiola, einem Vorläufer des Synthesizers. Eine erste Gruppe der daraus hervorgegangenen Werke ist von 1953 bis 1957 datiert. Außerdem improvisierte er auf Schlaginstrumenten sowie auf Gitarre und Mandoline, die er ebenfalls wie Schlaginstrumente behandelte. Scelsi erweiterte aber nicht nur seine Klangpalette durch das Bespielen verschiedener Instrumente, sondern bearbeitete auch seine Aufnahmen nachträglich. Mit seinen Tonbandgeräten erschloss er sich dazu einfache, aber effektive Techniken. So kürzte er schon in seiner „Suite n. 8“ (1952, © 1960) den Schluss des 6. Satzes – wohlgemerkt nicht mit Schere und Klebeband, sondern indem er die Aufnahme seiner Improvisation abspielte, mit einem anderen Tonbandgerät aufnahm und kurz vor dem Schluss stoppte. Im 4. Satz der „Suite n. 9“ (1953, © 1959) hört man zwei solche „Schnitte“ inmitten des Satzverlaufs, und in Nummer XVI der „Canti del Capricorno“ fügte er auf diese Weise eine Vielzahl kleinster Abschnitte aneinander. In „Rucke di Guck“ für Piccoloflöte und Oboe (1957, © 1965) spielte er seine Ondiola-Aufnahme doppelt so schnell ab und nahm das Ergebnis mit einem zweiten Tonbandgerät auf. Gegensätzlich arbeitete er in „Okanagon“ für Harfe, Kontrabass und Tamtam (1968), denn die Grundlage der Partitur ist hier eine verlangsamte Gitarrenaufnahme. Ein weiteres Bearbeitungsverfahren findet man im vierten Satz des „Divertimento n. 4“ für Violine (1955, © 1965). Auf dem Tonband hört man ab dem letzten Drittel die rückwärts laufende Aufnahme einer Ondiola. Im zweiten Satz der „Tre pezzi“ für Saxophon (1956, © 1961) läuft der Satz von der Mitte an krebsförmig zurück. Solche Palindrome finden sich in Scelsis Werk seitdem immer wieder.
Auf der Ondiola kann man nur einstimmig spielen, was Scelsi auf die Dauer anscheinend nicht mehr genügte. 1957 erwarb er eine zweite Ondiola.3 Man kann jedoch kaum auf beiden Instrumenten gleichzeitig spielen, die Registerklappen für die Klangfarben und Vibrato-Arten bedienen und mit den Kniehebeln die Dynamik steuern. Scelsi löste das Problem durch den Gebrauch zweier Tonbandgeräte. Er nahm zuerst eine Ondiola-Melodie auf und spielte sie wieder ab, während er dabei eine zweite Melodie auf der Ondiola spielte und beide zusammen mit dem zweiten Tonbandgerät aufnahm. Andere Möglichkeiten bestanden darin, zwei Ondiola-Melodien nacheinander auf zwei parallelen Spuren aufzunehmen oder eine Übersprechtaste zu nutzen, durch die er zu einer bereits vorhandenen Aufnahme eine weitere hinzufügen konnte. Die „Tre Canti sacri“ (1958, © 1963) gehören zu den ersten Werken, in denen Scelsi zwei Aufnahmen übereinanderschichtet. Im 5. Satz des „Quartetto n. 2“ (1959) sind es sogar vier Schichten. Einen Höhepunkt erreicht die Verdichtung des Klangs im Orchesterwerk „Hymnos“ (1963). Die Partitur verzeichnet bis zu acht gleichzeitig erklingende Töne (Oktavverdoppelungen nicht eingerechnet), von denen fünf einen vierteltönig abgestuften Cluster zwischen es2 und f 2 bilden (T. 38). Darüber hinaus bilden im ersten Teil des Werks zwei Orchestergruppen einen Kanon im Abstand von sechs Takten und einer Viertelnote. Je komplexer die elektroakustische Verarbeitung und die des Klangmaterials ist, desto unbedeutender wird die Rolle der Improvisation, die sich dann nur auf die Herstellung einzelner Grundelemente beschränkt. Das Verfahren, wie die Teile zusammengefügt werden, entspricht dem Begriff von Komposition, wie ihn auch Scelsi verstanden, für sich selbst aber stets zurückgewiesen hat.“4
Darüber hinaus entdeckte Scelsi die Möglichkeit, bestimmte Eigenheiten der Instrumente musikalisch zu nutzen. So verdankt sich die engräumige, nervös-expressive Sopranmelodie im ersten Satz von „Khoom“ (1962, © 1965) einem Defekt seiner Ondiola: Der instabile, perforierte Klang wurde wahrscheinlich durch einen korrodierten Kontakt am Kniehebel verursacht, mit dem die Dynamik gesteuert wird.5 Scelsi macht hier aus der Not eine Tugend, sprich: aus einem technischen Fehler einen musikalischen Effekt. Eine Zweckentfremdung erfährt das Rädchen, das sich links unter dem Gerät befindet und eigentlich dazu dient, die Ondiola zu stimmen:6 Scelsi nutzt die Möglichkeit, die Tonhöhe mikrotonal zu verändern, als strukturelles melodisches Element. „Manto per quattro“ (1957) ist eines der ersten Werke, in denen dies zum Einsatz kommt. Die stärkste Konzentration auf die strukturelle Mikrotonalität erreicht Scelsi im dritten Satz von „Xnoybis“ (1964, © 1964), der ausschließlich aus einer einstimmig-heterophonen „Tonwanderung“ besteht. Die spektakulärste Facette im Œuvre Scelsis, die bisher so gut wie unbekannt geblieben ist, dürfte jedoch die Aneignung von Musik anderer Komponisten und Kulturen sein.7
„Il funerale di Achille“
1962 schuf Scelsi „Il funerale di Achille“ für vier Schlagzeuger. Das Stück gehört zu einer dreiteiligen Werkgruppe mit dem Titel „Riti“ und wurde 1979 im Verlag Schirmer unter dem Titel „I Riti: Ritual March. The Funeral of Achilles“ veröffentlicht.8 Es handelt sich um eine minimalistische Musik, deren Elemente mit kleinen Veränderungen ständig wiederholt werden. Fünf Teile lassen sich unterscheiden:
A T. 1–18: Ein Abschnitt von drei Takten Länge wird mit kleinen Veränderungen insgesamt sechsmal gespielt.
A T. 19–35: Wiederholung von A, der sechste Durchgang ist verkürzt.
B T. 35–46: Vier Durchgänge von ebenfalls drei Takten, der vierte Durchgang ist am Schluss um eineinhalb Takte verkürzt.
A’ T. 46–63: Wiederholung von Teil A, der erste Durchgang ist zu Beginn um eineinhalb Takte verkürzt.
Coda T. 64–66: Wie der sechste Durchgang von A, nur mit kleinen Modifikationen.
In der Aufnahme, die sich im Scelsi-Archiv befindet9, hört man nach T. 18 und in T. 35 sehr deutliche „Schnitte“, während diejenigen in T. 46 und nach T. 63 kaum merklich sind. Aber was für eine Aufnahme hat Scelsi hier montiert? Offenbar handelt es sich nicht um eine Improvisation, sondern um eine Einspielung professioneller Schlagzeuger:innen. Wir kommen dem Rätsel durch eine weitere Aufnahme aus dem Archiv einen Schritt näher. Es handelt sich um den Konzertmitschnitt eines Stücks von etwa dreizehn Minuten Länge.10 Zu Beginn hört man eine Soloflöte mit Schlagzeugbegleitung, dann folgt eine längere Passage für Schlagzeugensemble. Danach treten zwei weitere Flöten und eine Klarinette hinzu, worauf eine zweite Passage für Schlagzeug folgt. Dann hört man wieder die Soloflöte mit Schlagzeugbegleitung, und allmählich wird die Instrumentation durch andere Bläser und Streicher aufgefüllt. Die Soloflöte spielt zu Beginn und nach der zweiten Schlagzeugpassage die gleiche Zwölftonreihe. Auch das darauffolgende Holzbläserquartett beruht anscheinend auf dodekaphonen Verfahren, die in schlichter Art an die Satztechniken Schönbergs und Weberns anknüpfen. Andererseits erwecken die Schlagzeugpassagen, vor allem der Beginn der ersten, einen gewissen rituellen Eindruck. Offenbar handelt es sich hier um Musik, in der die Zwölftontechnik mit asiatischen Traditionen verbunden wird. Bestrebungen solcher Art bildeten bis in die Sechzigerjahre hinein eine wichtige Strömung innerhalb der zeitgenössischen Musik Japans.
Erst nach langwieriger Suche konnte das unbekannte Stück identifiziert werden: Es handelt sich um das Orchesterwerk „Sa-Mai“ des japanischen Komponisten Yoritsune Matsudaira (1907–2001). Das 1958 entstandene fünfsätzige Werk verbindet Elemente des Gagaku, der traditionellen höfischen Musik Japans, mit dodekaphonen und seriellen Verfahren. Scelsi entnahm die Schlagzeug-Passagen dem mit „Preludio“ überschriebenen zweiten Satz. „Sa-Mai“ wurde am 15. Juni 1959 im Rahmen des 33. IGNM-Festivals in Rom uraufgeführt. Es spielte das Rundfunk-Kammerorchester Neapel unter der Leitung von Michael Gielen. Die RAI sendete die Aufzeichnung des Konzerts wenig später am 20. Juni 1959.11
Die folgende Abbildung zeigt, welche Teile Scelsi dem Stück entnommen und in welcher Reihenfolge er sie aneinandergefügt hat. Das unkonventionelle Montageverfahren steht in denkbar größtem Gegensatz zu der traditionell anmutenden dreiteiligen Form. Diese erschließt sich allerdings eher der Analyse als dem Hören, weil das Material der A-Teile und des mittleren B-Teils sich nur minimal unterscheiden.
Wie viele andere Werke Matsudairas wurde „Sa-Mai“ im Mailänder Verlagshaus Edizioni Suvini Zerboni verlegt, und zwar ein Jahr nach der Uraufführung in einer erweiterten Fassung. „Sa-Mai“ (Linkstanz) ist einer der höfischen Tänze des Bugaku, der durch Gagaku-Musik begleitet wird. Matsudairas Interesse an der traditionellen Musik Japans schlägt sich in vielen weiteren einschlägigen Werktiteln nieder, zum Beispiel im 1957 entstandenen „U-Mai“ (Rechtstanz) für Orchester oder in „Bugako“ für Kammerorchester aus dem Jahr 1962. Als Nachfahre der Shogun-Dynastie, die vom siebzehnten bis zum neunzehnten Jahrhundert Japan beherrschte, war ihm Gagaku-Musik, die nur am kaiserlichen Hof oder in Tempeln gespielt wurde, sicher vertraut.
Ist Scelsis „Il funerale di Achille“ ein Plagiat oder kann man seiner Bearbeitung eine ausreichende Schöpfungshöhe zugestehen? Scelsi hat aus dem komplexen Orchesterstück Matsudairas wohl den aus seiner Sicht interessantesten Bestandteil herausgenommen und durch mehrfache Wiederholung eine starke Konzentration der Wirkung erreicht. Das Material selbst hat er jedoch vollständig unverändert gelassen. Freilich hat Scelsis Aufnahme danach noch den Weg über die Transkription genommen. Dank des hervorragenden Gehörs von Vieri Tosatti hat sich dadurch aber nichts Wesentliches an der musikalischen Substanz geändert, man erkennt Matsudairas „Sa-Mai“ problemlos wieder, sofern man das Stück schon einmal gehört hat. Wie sich im Folgenden zeigen wird, ist der Zugriff auf fremde Musik bei Scelsi kein Einzelfall.
„I presagi“
Obwohl die drei Sätze des Ensemblestücks „I presagi“ von unterschiedlicher Faktur sind, folgen sie doch einer deutlichen Tendenz. Während der erste Satz aus zwei melodisch prägnanten, tonal aufeinander bezogenen Ondiola-Linien besteht,12 beschränkt sich der zweite auf die zwei eng beieinander liegenden Töne f und ges, die tiefer als normal intoniert sind.13 Die Oktavlage wechselt ab Minute 7:40 von der kleinen in die eingestrichene und ab Minute 9:07 in die große Oktave. Gelegentlich wird auch das dynamische Verhältnis der beiden Töne verändert: Mal sind beide gleich laut, mal dominiert der eine oder der andere Ton. Es sind aber ausschließlich kurze Ausschnitte aus einer bereits existierenden Aufnahme zu hören, die ein- und wieder ausgeblendet werden. Startet das Tonband, auf dem die ursprüngliche Aufnahme wiedergegeben wird, dann entsteht ein charakteristisches kleines Glissando nach oben. Die Kleinteiligkeit und die zahlreichen Glissandi prägen den zweiten Satz. Im Gegensatz zum ersten Satz ist das Klangmaterial äußerst reduziert, seine technische Weiterverarbeitung gewinnt dafür aber erheblich an Bedeutung.
Der dritte Satz geht noch einen Schritt weiter, denn er ist pure Klangenergie zwischen tonlosem Blasen und ungeheuren Schlagzeugentladungen. Die ihm zugrunde liegende Aufnahme ist im Archiv nicht schwer zu finden, denn auf der betreffenden Tonbandschachtel ist „III dei Presagi“ zu lesen.14 Auch die Form des Palindroms, die man in der Partitur erkennen kann (die Symmetrieachse befindet sich zwischen T. 47 und 48), macht sich in der Aufnahme als kurze Lücke in der Mitte des Stücks bemerkbar (Minute 51:27–51:29). Der Klang ist vom Rauschen des Tonbands und starken Verzerrungen geprägt. Ein mikrotonales Schwanken zwischen den Tönen b und a ist durchaus zu erkennen, ebenso einige wenige prägnante Rhythmen. Mit der Partitur in der Hand lässt sich die Aufnahme mit einiger Mühe verfolgen, aber man mache sich die Aufgabe klar, vor die sich Vieri Tosatti gestellt sah! Es handelte sich keineswegs nur um eine „Transkription“, aus diesen rudimentären Klängen und Geräuschen eine so differenzierte und effektive Partitur zu gestalten. Abgesehen davon fragt man sich natürlich, welcher Quellen sich Scelsi hier bedient hat, denn mit den üblicherweise von ihm verwendeten instrumentalen Klängen hat diese Aufnahme nichts zu tun.
Verdoppelt man die Geschwindigkeit der Aufnahme des dritten Satzes von „I presagi“, dann hört man immer noch eine bloß geräuschhafte Textur – und ebenso, wenn man die Geschwindigkeit vervierfacht. Verachtfacht man sie aber, so macht man eine erstaunliche Entdeckung. Man hört dann nämlich als zweite Hälfte des Palindroms, wenn auch in äußerst schlechter Klangqualität, einen Männerchor und einen Solisten. Die gleiche Aufnahme befindet sich auch auf drei anderen Tonbändern, wo man sie in besserer akustischer Qualität hören kann.15 Man erkennt auf ihnen zusätzlich noch einen gewaltigen Beckenschlag und im Hintergrund stützende Bläser. Die Sänger rezitieren meistens auf einem Ton, der Gesang scheint aber auch immer wieder in rhythmisiertes Sprechen überzugehen, was der Aufnahme einen rituellen Charakter verleiht. Das Timbre des Chors, des Solisten und die orchestralen Fragmente sprechen aber dafür, dass es sich um eine Konzertaufführung in europäischer Tradition handelt. Wie man an Knackgeräuschen hört, ist die Quelle offensichtlich eine Schallplattenaufnahme.
In der Spielzeit 1958/59 wurde im Foro Italico in Rom die „Nirvana Symphony“ für Männerchor und großes Orchester von Toshirō Mayuzumi aufgeführt.16 Der japanische Komponist wurde 1929 geboren und studierte unter anderem in Paris. In der 1958 komponierten „Nirvana Symphony“verbindet er Einflüsse traditioneller Musik Japans mit solchen der Musik Olivier Messiaens. Besonders der Klang buddhistischer Tempelglocken spielt eine große Rolle. Mayuzumi schrieb auch zahlreiche Filmmusiken, unter anderem zu dem 1966 gedrehten Epos „The Bible“. Er starb 1997 in Japan.
Der erste und dritte Satz der „Nirvana Symphony“ wurden in einer Aufnahme des japanischen Rundfunks am 12. Februar 1960 von der RAI gesendet.17 Es spielte bzw. sang das N. H. K. Symphonieorchester und die Tokyo Choraliers unter der Leitung von Hiroyuki Iwaki. Im Jahr 1962 gab Earle Brown beim Label Time Records eine Aufnahme der Symphonie mit den gleichen Interpreten heraus, nur diesmal unter der Leitung von Wilhelm Schüchter.18
Diese Aufnahme hat Scelsi auf Tonband überspielt und für den dritten Satz von „I presagi“ verwendet.19 Er hat dem ersten Satz zehn Ausschnitte zwischen einer und zwölf Sekunden Länge entnommen und aneinandergereiht:20
1 12:32–12:36
2 13:16–13:18
3 13:32–13:33
4 13:23–13:25
5 13:15–13:20
6 13:20–13:29
7 13:46–13:57
8 13:57–14:01
9 14:07–14:19
10 14:17–14:21
Von dieser Kompilation hat Scelsi allerdings nur achtzehn Sekunden, nämlich den sechsten und den größten Teil des siebten Ausschnitts, für „I presagi“ verwendet.21 Was mag ihn an Mayuzumis Werk gereizt haben? Die „Nirvana Symphony“ wird im Untertitel als „Buddhistische Kantate“ bezeichnet. Der Klang von Tempelglocken und die Rezitation ritueller Texte prägen das Stück ebenso wie die Errungenschaften der damaligen Avantgarde-Musik Europas. Das Werk wird durch eine „Campanology“ (Glockenkunde) eingeleitet. Der erste Satz heißt „Sūraṃgamaḥ“ und beruht auf einem Sutra des frühen Mahayana-Buddhismus. Es scheint aber weniger der Inhalt des Textes zu sein, auf den Scelsi abhob, als vielmehr die spirituelle Atmosphäre des Stücks. Die Verbindung von Ost und West war für Scelsi ein zentraler Gedanke:
„Rom ist die Grenze zwischen Osten und Westen. Südlich von Rom beginnt der Osten und nördlich von Rom der Westen. Die Grenzlinie verläuft genau über dem Forum Romanum. Dort steht mein Haus, daraus erklärt sich mein Leben und meine Musik.“22
Auffälligerweise differieren in Scelsis eigenen Werkverzeichnissen die Angaben zur Instrumentalbesetzung von „I presagi“:
7 Blasinstrumente (GS.2.III.3.2.3)23
8 Instrumente (GS.2.III.3.2.2)
9 Instrumente (2 Hörner, 2 Trompeten, 1 Tenorsaxophon, 2 Posaunen, 2 Tuben)
(GS.2.III.3.2.2)
10 Instrumente (wie oben + Schlagzeug) (GS.2.III.3.2.2)
11 Instrumente (wie oben + 2 Schlagzeuger) (Salabert-Katalog)
Auf dem Titelblatt der Druckausgabe bei Salabert werden zehn Instrumente angegeben, wobei wohl das Schlagzeug als ein Instrument gezählt wurde. Pauken, Windmaschine und große Trommel erfordern aber zwei Spieler, was dann im Verlagskatalog berücksichtigt wurde. Bei Scelsis Angabe von neun Instrumenten fehlt das Schlagzeug. Es scheint also der dritte Satz erst später hinzugekommen zu sein. Wenn als Entstehungszeit das Jahr 1958 angegeben wird, kann das nicht den dritten Satz betreffen, ist doch die zugrunde liegende Mayuzumi-Platte erst 1962 erschienen. Von den ersten beiden Sätzen hat es offenbar Vorfassungen mit sieben bzw. acht Blasinstrumenten gegeben. „I presagi“ wurde am 16. Februar 1986 in Köln uraufgeführt. Es spielte das Ensemble Köln unter der Leitung von Robert HP Platz.
„Uaxuctum“
In seinen Lebenserinnerungen schreibt Scelsi:
„Die Devas standen mir bei und ich komponierte ,Uaxuctumʻ. Das ist der Name einer Mayastadt, die von ihren eigenen Erbauern zerstört wurde, bevor sie fertig war, wie es scheint aus religiösen Gründen: eine große symbolische, vielleicht zeitlose Geschichte, und sie hat sich wirklich ereignet. Ich habe dieses Werk nie gehört; vielleicht werde ich es nie hören; es ist sehr komplex: für Chöre, die ausschließlich Phoneme singen, und ein riesiges Orchester. Wer weiß, wie es klingen wird?“24
Zum Glück seiner späten Jahre gehörte es, dass Scelsi sein Werk noch hören konnte: Am 23. Oktober 1987 führten das Sinfonieorchester und der Rundfunkchor des Westdeutschen Rundfunks (Chordirektor: Herbert Schernus) unter der Leitung von Hans Zender „Uaxuctum“ in der Kölner Philharmonie zum ersten Mal auf.25
Diese Komposition für Chor, Orchester und Ondes Martenot (1966) unterscheidet sich in Faktur und Klang von den übrigen Werken Scelsis. Diese Unterschiede erschließen sich schon durch die Partituranalyse und das Hören der eingespielten Interpretationen, noch deutlicher werden sie aber durch Scelsis eigene Tonbandaufnahme.26 Während die Klänge von „Hurqualia“ oder „Hymnos“ ausschließlich aus Ondiola-Tönen bestehen, sind sie in „Uaxuctum“ von ganz anderer Art. Im dritten Satz beispielsweise scheint es sich zunächst um die Klänge eines Klaviers zu handeln, dann hört man ein Blechbläserensemble, und später fühlt man sich an elektronische Klänge erinnert, wie sie in den Sechzigerjahren üblich waren. Dieses Klangmaterial wird durch zahlreiche Crescendi und Diminuendi, durch exzessives Fade-in und Fade-out überformt. Auf diese Weise entsteht eine dramatisch aufgeladene Atmosphäre, die einen geradezu erzählerischen Duktus entfaltet, der bis ins Hörspielhafte reicht. So könnte man zum Beispiel meinen, im Schlussteil entfernte Detonationen zu hören. Dass Assoziationen von Gewalt und Zerstörung nicht völlig aus der Luft gegriffen sind, belegt der Untertitel, den Scelsi diesem Werk gab: „La légende de la cité Maya, détruite par eux-mêmes pour des raisons religieuses“ (Die Legende der Stadt der Maya, die aus religiösen Gründen von ihnen selbst zerstört wurde).
Auch die Harmonik unterscheidet sich von derjenigen anderer Werke Scelsis. Als charakteristisches Beispiel soll das Ende von T. 16 im dritten Satz herausgegriffen werden (siehe das folgende Notenbeispiel).27 Der Klang erhält sein Gepräge vor allem durch Quinte, Tritonus und Quarte und die daraus resultierende kleine None und große Septime. Ein solcher Klangaufbau ist charakteristisch für Kompositionen in der Nachfolge Weberns bis weit in die Fünfzigerjahre hinein. Das war der Schlüssel, mit dem die Herkunft der verwendeten Klänge ausfindig gemacht werden konnte. Scelsi hat sie einem Werk von Edgard Varèse entnommen, nämlich „Déserts“ für 15 Instrumente, Schlagzeug und Tonbandzuspielung (1950–1954). Scelsi verlangsamte die Aufnahme aber vierfach und transponierte sie damit um zwei Oktaven tiefer. Weil die Geschwindigkeit seiner Geräte nicht exakt ist, steht Scelsis Aufnahme nach den Manipulationen ungefähr einen halben Ton höher als die zwei Oktaven. Im folgenden Notenbeispiel kann man die Korrespondenzen sehen (durchgezogene Linien), die Abweichungen sind gering (gestrichelte Linien).28 In „Uaxuctum“ sind die Töne H und E chromatisch verwischt, was dem Klang eine besondere Rauheit verleiht.
Scelsi hat den ersten, dritten und fünften Satz von „Uaxuctum“ ausschließlich aus dem Material von „Déserts“ zusammengesetzt. Der erste Satz besteht aus einundzwanzig Teilen, wobei Teil c durch zwei Lücken in drei Abschnitte geteilt ist. Der kürzeste Teil ist nur zwei Sekunden lang. Alle Ausschnitte aus „Déserts“ hat Scelsi vierfach verlangsamt, mit Ausnahme der Teile d und e, die doppelt so langsam sind wie das Original, und des Teils r, der nicht verlangsamt wurde.
Es ist nicht bekannt, welche Aufnahme von „Déserts“ Scelsi verwendet hat. Auf den bisher untersuchten Bändern gibt es eine Aufnahme, die von einer Schallplatte überspielt wurde.29 Zum Vergleich standen dem Autor die folgenden, bis 1966 entstandenen historischen Aufnahmen zur Verfügung:
- Mitschnitt der skandalträchtigen Uraufführung mit dem Orchestre National de France unter der Leitung von Hermann Scherchen am 2. Dezember 1954 in Paris, in: „Edgard Varèse, Création de ,Désertsʻ. Entretiens avec Georges Charbonnier“, Doppel-CD, Frankreich: INA, 2007;
- „A Sound Spectacular. Music of Edgard Varèse“, Vol. 2, Columbia Symphony Orchestra, Leitung: Robert Craft, Columbia Masterworks, USA: 1962;
- Probe des Orchestre du Domaine Musical unter der Leitung von Bruno Maderna am 23. November 1965, in: „Les Grandes Repetitions. Hommage à Edgard Varèse“, Film von Luc Ferrari und Gérard Patris, DVD, New York: mode records, 2015;
- Mitschnitt des Konzerts des Concertgebouw Orchestra unter der Leitung von Bruno Maderna in Amsterdam am 17. April 1966, https://www.youtube.com/watch?v=UaTUxEHF5hg (aufgerufen am 15.4.2024).
Keine der vier Aufnahmen stimmt mit der von Scelsi überspielten überein. Sowohl bei Scelsi als auch bei Scherchen ist eine ältere Instrumentalfassung zu hören, was man an der Erweiterung von T. 40 erkennt. Der Aufnahme von Robert Craft aus dem Jahr 1962 und den beiden Maderna-Mitschnitten liegt dagegen die revidierte Fassung der gedruckten Partitur zugrunde (New York: Colfranc, 1959). Große Unterschiede gibt es bei den elektronischen Interpolationen, den sogenannten „organized sounds“. Die erste Interpolation ist bei Scelsi und Scherchen gleich, bei Craft aber erheblich modifiziert und auch kürzer. Die zweite Interpolation ist bei Scelsi gegenüber Scherchen erweitert (Einschub in Minute 14:11–15:08). Bei Craft ist sie zwar fast so lang wie bei Scelsi, aber stark verändert. Die dritte Interpolation stimmt bei Scelsi und Scherchen bis auf den Schluss überein, während die von Craft anders und auch erheblich kürzer ist. Überraschend sind die „organized sounds“ bei Maderna (1966). Zwar stimmt die Länge der ersten Interpolation mit derjenigen Scelsis und Scherchens überein, die Fassung ist aber wiederum eine andere als bei diesen und auch bei Craft. Die zweite Interpolation entfällt ganz, die dritte verwendet Klänge wie bei Craft, ist aber mit der Dauer von 1:35 extrem kurz. Die Quelle von Scelsis Aufnahme bleibt demnach vorerst unbekannt, sie stammt anscheinend aus der Zeit zwischen der Uraufführung 1954 und Crafts Version von 1962.30 Es könnte sich um den Schallplattenmitschnitt eines Konzerts oder einer Rundfunksendung handeln. Bruno Maderna dirigierte „Déserts“ noch im Dezember 1954 in Hamburg und Stockholm. In Italien dirigierte er „Déserts“ am 18. Mai 1957 in Rom und das Konzert wurde von der RAI direkt übertragen.31 Auch in den folgenden Jahren sendete die RAI mehrere Aufführungen unter der Leitung von Frederick Prausnitz (1960), Maderna (1962) und Ettore Gracis (1964 und 1966).
Die Aufschlüsselung der Genese von „Uaxuctum“ wird zu allem Überfluss dadurch noch weiter erschwert, dass Scelsi dazu seine eigene Schallplattenüberspielung gar nicht verwendet hat. Dies zeigt der Vergleich seiner Aufnahme von T. 42–50 mit dem Beginn des dritten Satzes von „Uaxuctum“.32 Insbesondere das Hornmotiv und die antwortende B-Klarinette in T. 45–46 sowie die Trompeten-Quintole in T. 49 unterscheiden sich in Klang, Tempo und Agogik deutlich voneinander. Mangels einer besseren Alternative beziehen sich in den vorliegenden Analysen die Zeitangaben trotzdem auf Scelsis Überspielung von „Déserts“. Auch die Zuordnung der „organized sounds“ bleibt manchmal hypothetisch (in eckige Klammern gesetzt). So gibt es für den sehr prägnanten Abschnitt r des ersten Satzes kein eindeutiges Pendant in den zur Verfügung stehenden Aufnahmen. Dazu kommt noch die schlechte Aufnahmequalität, besonders der extreme Klirrfaktor bei hoher Dynamik.
Scelsis Aufnahme des ersten Satzes von „Uaxuctum“ beginnt mit Umweltgeräuschen, insbesondere den Klängen beschleunigender und bremsender Fahrzeuge. Diese wurden in Glissandi übertragen, die in den Teilen a–c, m und r–s von drei Kontrabässen gespielt werden. Über die Transkription von Umweltgeräuschen berichtet Scelsis Mitarbeiter Riccardo Filippini (*1950):
„Außer den Mängeln eines Tonbands in schlechtem Zustand hörte man Autos, die auf der Straße vorbeifuhren und die Geräusche aus dem Haus! [...] Diese ‚Effekteʻ mussten unbedingt transkribiert werden, und auch sie mussten je nach der Klangfarbe diesem oder jenem Instrument zugewiesen sein.“33
Teil b besteht nur aus Bandrauschen. Auf dem Tonband, auf dem alle Sätze von „Uaxuctum“ vorhanden sind, gibt es drei Versionen des ersten Satzes.34 Die Autogeräusche aus Teil a hört man nur in der ersten Version. Die zweite entspricht größtenteils der Partitur, beginnt aber erst mit Teil b. Die dritte Version enthält den Teil o ohne Unterbrechungen. Die Teile c1–c3 folgen sowohl im ersten Satz von „Uaxuctum“ als auch in „Déserts“ in der gleichen Reihenfolge aufeinander, ebenso die Teile f–q und t–u.
Der dritte Satz von „Uaxuctum“besteht aus zwei größeren Teilen (a und h), die eine Reihe sehr kurzer Teile umrahmen. Beim ersten und letzten Abschnitt ist die Zuordnung eindeutig, bei b–g aufgrund der Kürze der Klangereignisse und der extrem manipulierten Dynamik hypothetisch. Alle Teile sind vierfach verlangsamt.
Der fünfte Satz von „Uaxuctum“ ist ähnlich kleinteilig wie der erste. Die Teile a–f sind der ersten instrumentalen Episode von „Déserts“ entnommen, die Teile g–q stammen aus der ersten Interpolation. Alle Teile treten konsequent in der gleichen Reihenfolge wie bei Varèse auf. Das Material wurde ausnahmslos vierfach verlangsamt.
Die Genese des zweiten und vierten Satzes von „Uaxuctum“ dürfte sehr schwer zu entschlüsseln sein. Die Aufnahmen sind extrem geräuschhaft und bieten der Analyse nur wenige Anhaltspunkte. Beide scheinen verlangsamt zu sein, der zweite Satz ist außerdem rückläufig. Absolute Spitzenleistungen sind die Partiturfassungen Tosattis, insbesondere die fein ausgearbeiteten Chorpartien, die den Sänger:innen freilich äußerste Präzision abverlangen. Tosatti hat hier für eine schier unlösbar scheinende Aufgabe derartig fantasievolle und elegante Lösungen gefunden, dass man seine abfälligen Äußerungen aus den späten Jahren über die damals zeitgenössische Musik im Allgemeinen und Scelsis Musik im Besonderen nur schwer damit in Übereinstimmung bringen kann.35
Im Gegensatz zu Matsudairas „Sa-Mai“ wird Varèses Werk durch die starke Verlangsamung und den um zwei Oktaven tieferen Klang erheblich verändert, die Manipulationen am Lautstärkeregler tun ein Übriges, um den Klang noch stärker zu verfremden. Und nicht zuletzt wird die Aufnahme in eine Partitur transformiert, die den Klang durch den traditionsreichen Apparat von Chor und Orchester weiter überformt. Ein Plagiat wird man daher weder in „Uaxuctum“ noch im dritten Satz des Ensemblestücks „I presagi“ zu sehen haben, in dem Scelsi dieses Verfahren zum ersten Mal anwendete. Dass er sich für die Musik von Edgard Varèse interessierte, zeigen Mitschnitte von Rundfunksendungen der Werke „Intégrales“, „Hyperprism“,36 „Amériques“, „Poème électronique“ und „Arcana“.37 Er sah in Varèse einen Gleichgesinnten, was das Konzept des Klangs betrifft. In seinem Text „Son et musique“ schreibt Scelsi:
„Ja, gewiss studiert man seit einiger Zeit hier in Europa, aber noch mehr in Amerika den Klang und seine Eigenenergie; in dieser Hinsicht hat man sich der östlichen Konzeption angenähert – sagen wir seit Webern und Varèse bis hin zur elektronischen Musik.“38
Einen Blick in die Kompositionswerkstatt gestattet ein Dialog zwischen Giacinto Scelsi und (vermutlich) Vieri Tosatti. Die Aufzeichnung geht den Aufnahmen von „Uaxuctum“ unmittelbar voraus:39
Tosatti: „Effe e erre, insieme.“
Tosatti /Scelsi: „Fff…“/„Rrr…“
Tosatti: „Contrario.“
Scelsi: „Sì.“
Tosatti /Scelsi: „Rrr…“/„Fff…“
GS: „Ancora una volta, io faccio il soffio.“
Tosatti: „Sì.“
Tosatti /Scelsi: „Fff…“/„Rrr…“
Tosatti: „Acca semplice: hhh…, acca con accento: khhh…“
Scelsi und Tosatti probieren zusammen Phoneme aus, die in den elektroakustisch verstärkten Chorpartien von „Uaxuctum“ zur Anwendung kommen. Die Kombination von „f“ und „r“ taucht in der Partitur zum ersten Mal im ersten Satz in T. 39 auf: Sopran und Tenor produzieren das „r“, Alt und Bass das „f“. Den einfachen Hauch „h“ und den mit Explosivlaut beginnenden Hauch „kh“, die Tosatti demonstriert, finden wir schon in T. 2 des ersten Satzes. Das Tondokument zeigt, wie intensiv Scelsi an diesen Details mitgewirkt hat und wie kollegial die Zusammenarbeit der beiden Maestri war.
„Canti del Capricorno“
Die „Canti del Capricorno“ (Gesänge des Steinbocks) sind eine Sammlung von zwanzig Gesängen für Frauenstimme allein beziehungsweise für Frauenstimme und Instrumente (II mit Kontrabass, VII mit Saxophon, XV und XIX mit zwei Schlagzeugern). Die Sängerin hat außerdem selbst Instrumente zu spielen (in I einen Gong und in XX eine Bassblockflöte). Die „Canti“ entstanden wahrscheinlich zwischen 1962 und 1972. Scelsi produzierte Tonbandaufnahmen der Stücke, indem er Ondiola, Gitarre, Stimmaufnahmen und musikethnologische Schallplatten verwendete. Die Partituren wurden von Vieri Tosatti (I, III, VIII und XII–XIX) und Riccardo Filippini geschrieben (II, IV–VII, IX–XI und XX). Zuletzt ließ Scelsi Filippini auch die Tosatti-Transkriptionen abschreiben und erhielt so alle zwanzig „Canti“ in einer einheitlichen Handschrift.
Die „Canti del Capricorno“ sind aus der Zusammenarbeit mit der japanischen Sängerin Michiko Hirayama (1923–2018) hervorgegangen. Sie hat die Stücke zusammen mit Scelsi erarbeitet, uraufgeführt und auf Tonträger aufgenommen. Die drei wichtigsten Aufnahmen:
- Eine von Scelsi selbst als Ananda No 5 mitherausgegebene Schallplatte aus dem Jahr 1980 enthält nur die Nummern I, III, VIII, XVII und XX. Die Aufnahmen entstanden zwischen 1972 und 1974.
- Eine Schallplatte des deutschen Labels WERGO aus dem Jahr 1987, die 1988 auch als CD erschien, enthält 19 Stücke: I = Track 1, II = 4 (ohne Kontrabass), III = 3, IV = 2, V = 12, VII = 5, VIII = 11, XII = 9, XIII = 8, XIV = 13, XV = 14, XVI = 15, XVII = 16, XVIII = 17, XIX = 18 und XX = 19. Es fehlen die Stücke VI und IX–XI, stattdessen sind als Tracks 6, 7 (mit Saxophon) und 10 andere Stücke Scelsis eingefügt.
- Die 2007 ebenfalls bei WERGO erschienene CD mit Scelsis „Canti del Capricorno“ ist die erste vollständige Aufnahme in der endgültigen Reihenfolge. Die Nummern II und IV wurden auf den Wunsch Scelsis hin vertauscht.
Die originalen Tonbandaufnahmen Giacinto Scelsis gehören zweifellos zu den interessantesten Tondokumenten des Archivs. Hier treten die verschiedenen Klangquellen in ihrer bunten Vielfalt zutage, während sie sonst durch die Verschriftlichung und die Wiedergabe durch eine Interpretin ein Stück weit vereinheitlicht werden. Die Schachtel zum Tonband NMGS0210-159 enthält Scelsis Aufschrift „Capricorno ondiola“, auf dem Band sind bis auf die Nummern IX und XI alle „Canti“ zu hören. Sechs Stücke (III, V, VI, VIII, X und XIII) beruhen auf melodischen Ondiola-Aufnahmen, ähnlich wie viele Solostücke für Bläser oder Streicher. Auf eine Aufnahme von zwei melodisch angelegten Ondiolen geht das Duo für Saxophon und Gesang (VII) zurück. Ein typisches Eintonstück ist dagegen „Canto“ IV; die mikrotonalen Verschiebungen sind hier offensichtlich Nebenwirkungen der verschiedenen Register und des weiten Vibratos. In zwei unbegleiteten Stücken (IV und XII) werden die mikrotonalen Möglichkeiten der Ondiola gezielt eingesetzt. In beiden Stücken hört man bei den Crescendi das schon erwähnte charakteristische „Kratzen“, das durch einen korrodierten Kontakt am Kniehebel der Dynamiksteuerung verursacht wird. Im „Canto“ IV ist dieser Klang entweder rhythmisch ausnotiert oder als Tremolo-Zeichen notiert, ohne dass die Art der Ausführung näher erläutert würde. Hier erweist sich das Hören der Originalaufnahme als unabdingbare Voraussetzung einer vokalen Interpretation. Im „Canto“ XII wird der Effekt durch das Singen auf dem Konsonanten „r“ oder durch schnelles Öffnen und Schließen des Mundes mit der Hand realisiert („Aprire e chiudere velocemente la bocca con la mano“). Im Übrigen ist dieses Stück ein instruktives Beispiel für einen „wandernden“ Klang, der – ähnlich wie im dritten Satz des Violinsolos „Xnoybis“ – den Raum einer kleinen Terz durchmisst.
Besonders spannend ist die Aufschlüsselung der Klangquellen in den beiden Stücken mit Schlagzeugbegleitung. Die Analyse der Aufnahme des „Canto“ XV wird uns dadurch erleichtert, dass es neben der fertig abgemischten Aufnahme40 eine weitere gibt, auf der die beiden Bestandteile – der Gesangs- und der Schlagzeugpart – auf zwei Parallelspuren verteilt sind.41 Auf der linken Spur hören wir Scelsis Spiel auf der Gitarre, die wie ein Schlaginstrument gespielt wird, so wie wir es auch von „Ko-Tha“und „TKRDG“ kennen. An zwei Stellen ist die Aufnahme unterbrochen. Eine genauere Untersuchung ergibt, dass eine Gitarrenimprovisation von einer Minute und vierundfünfzig Sekunden Dauer zugrunde liegt. Diese Original-Improvisation finden wir auf einem anderen Tonband.42 Aus ihr hat Scelsi drei Teile, hier mit a, b und c bezeichnet, herausgeschnitten. Die folgende Grafik zeigt, dass einige Abschnitte zwei- bzw. dreimal verwendet werden. Dadurch wird die Gitarrenaufnahme auf eine Gesamtdauer von etwa drei Minuten gestreckt. Der Schluss der Improvisation entfällt dagegen.
Dieses Verfahren, das Scelsi des Öfteren verwendete, wirft die Frage nach der musikalischen Logik einer derart zusammengestückelten Strecke auf. Zu welchem Ergebnis man dabei auch kommen mag: Das Verfahren steht in einem ganz offensichtlichen Widerspruch zu Scelsis Diktum vom „inspirierten Wurf“,43 handelt es sich doch um „Komposition“ im wortwörtlichen Sinne, von „Zusammensetzung“ mehrerer Teile. Das perkussive Spiel auf der Gitarre hat Vieri Tosatti für Schlagzeug eingerichtet, das von zwei Spielern auszuführen ist. Die Filippini-Partitur ist eine weitgehend revidierte Fassung der originalen Tosatti-Transkription. Michiko Hirayama benutzte die Version von Tosatti, hat aber in ihrem Notenexemplar zahlreiche Schlagzeug-Takte gestrichen.
Die Melodiestimme, die wir auf der rechten Spur des schon erwähnten Tonbands hören, überrascht einerseits durch ihre pentatonische Struktur, andererseits durch den Instrumentalklang, der an eine primitive Flöte erinnert. Scelsi hat die zugrunde liegende Aufnahme manipuliert, indem er die Abspielrichtung umgekehrt hat. Hört man die Flötenmelodie rückwärts, dann erkennt man eine ethnologische Musikaufnahme. Es handelt sich um Musik eines Stammes aus dem Amazonasbecken mit dem Titel „Tumuc Humac. Musique de la haute forêt amazonienne“.
Die 1953 in Frankreich erschienene Schallplatte mit Aufnahmen einer Expedition in das Grenzgebiet von Französisch-Guayana und Brasilien von 1951 bis 1952 befindet sich im Nachlass des Komponisten.44 Der zweite Schallplattentrack in der Gruppe „Le village Indien“ ist mit „Flûte de signal et d’appel“ betitelt. Scelsi hat aus der zweiundvierzig Sekunden langen Aufnahme elf Teile herausgeschnitten. In der Grafik sehen wir die Herkunft der Teile aus der Schallplattenaufnahme. Aus den zwischen einer und sechzehn Sekunden langen Teilen hat Scelsi sieben Phrasen gebildet (hier bezeichnet als a bis g), die durch längere Zwischenspiele, in denen nur das Schlagzeug zu hören ist, voneinander getrennt sind.45
Wie im Fall des Gitarrenparts wurde der ursprüngliche musikalische Zusammenhang durch eine abstrakte Aneinanderreihung von Fragmenten ersetzt. Man fragt sich, ob „zufällige“ Ereignisse wie der Schnitt zwischen den Teilen a1 und a2 (in der Partitur in T. 6), der Tonrepetitionen und einen plötzlichen Wechsel vom Piano zum Fortissimo zur Folge hat, einen musikalischen Sinn ergeben. Offen ist auch, ob man das Fehlen der metrischen Koordination zwischen der Gitarren- und der Flötenschicht als einen Mangel oder einen besonderen Kunstgriff anzusehen hat. Die überwiegend zweizeitigen Metren beider Schichten verschieben sich von Mal zu Mal. Ist das zunächst durchaus von einem gewissen Reiz, so verliert sich dieser mit abnehmender Differenzierung des Gitarrenparts, und beide Schichten laufen beziehungslos nebeneinanderher.
Die „Canti“ XV und XIX haben mehr als nur die instrumentale Begleitung durch zwei Schlagzeuger:innen gemeinsam. Die Gitarrenimprovisation als Grundlage des Schlagzeugsatzes ist nämlich in beiden Stücken dieselbe. Es gibt nur zwei Unterschiede: In XIX kommen die ersten vier Sekunden doppelt vor, weil die Überspielung abgebrochen und noch einmal gestartet wird. Außerdem fehlen hier weitere Schnitte, denn die Gitarrenimprovisation läuft einfach bis zum Schluss durch;46 daher endet die Übereinstimmung bei Minute 2:15 (T. 46). Die Schlagzeugpartien entsprechen sich bis zu dieser Stelle weitgehend, in den Details gibt es aber viele Unterschiede.47
Auch die Melodiestimme beruht in beiden Stücken auf der rückwärts abgespielten Aufnahme einer volkstümlichen Flöte. In XIX ist es eine Panflöte, und man hört der äußerst expressiven Melodie an, dass sie von einem Meister dieses Instruments gespielt wird. Es handelt sich um niemand Geringeren als Gheorghe Zamfir, der ein „Bocet“, einen rumänischen Klagegesang, spielt. Die Aufnahme des Schweizer Musikethnologen Marcel Cellier wurde 1970 auf der Schallplatte „Les flûtes Roumaines“ bei dem Pariser Label Arion veröffentlicht.48 Scelsi verwendet nur einen Ausschnitt aus der zweiten Hälfte des Tracks.
Wie dem „Canto“ XV liegt auch hier der abgemischten Fassung (Band Nr. 210) eine zweikanalige Aufnahme zugrunde, die wir auf dem Band Nr. 185 hören.49 Man könnte die beiden „Canti“ XV und XIX daher als Parallelversionen bezeichnen. Riccardo Filippini hat auch die Tosatti-Partitur von XIX bearbeitet. Während im ersten Schlagzeugpart nur Details verändert sind, ist der zweite radikal vereinfacht: Von den ursprünglich drei Instrumenten ist nur die Conga („Tumbo“) übrig geblieben.
Über die Verwendung ethnologischer Musikaufnahmen hat sich Scelsi anscheinend nie explizit geäußert. Es existiert aber ein verrätselter Text, den man als Andeutung der damit verbundenen Ideen lesen kann. Der Kölner Rundfunkredakteur Wilfried Brennecke berichtet über ein Gespräch mit dem Maestro:
„,Erzählen Sie mir etwas über Ihr Werk oder vielmehr, wie Sie sagen, über die Botschaften, die Sie überbringen.ʻ ,Ich kenne die Inhalte nichtʻ, antwortete er, ,aber ich weiß etwas über sie durch die Briefmarken, die auf sie aufgeklebt sind. Sie vermögen sie nicht zu sehen, aber ich kann das. Da sind Marken von überall her: Marken aus dem Osten, aus Afrika, aus Mittelamerika und so weiter. Das ist alles, was ich über sie sagen kann.ʻ“50
Aus Tibet, dem frankophonen Afrika und Amazonien stammen auch die von Scelsi verwendeten Aufnahmen. Ging es ihm darum, die spezifische Aura dieser Musik einzufangen? Wollte er diese durch seine eigenen Werke vermitteln, auch wenn der Hörer ihren Ursprung nicht erkennt („Sie vermögen sie nicht zu sehen, aber ich kann das“)? Oder hatte ihre archaische Herkunft nur für ihn selbst eine – gewissermaßen private – Bedeutung? Die Vereinnahmung außereuropäischer Kunst durch die westliche Avantgarde war seinerzeit nicht neu. Auch die Pioniere der Musique concrète haben Fremdaufnahmen verwendet, aber diese bleiben prinzipiell kenntlich, handelt es sich doch um elektroakustische Musik.51 Weil Scelsi seine Tonbandaufnahmen aber stets in Partituren übertragen ließ, ist die Herkunft der von ihm verwendeten Klänge nicht mehr ohne weiteres erkennbar. Das ist nur durch das Hören der Originalaufnahmen möglich.
Im „Canto“ XVI erreicht Scelsis analoges Sampling-Verfahren seinen Höhepunkt. In der Aufnahme52 hört man nicht weniger als 32 „Schnitte“, will sagen: Stopps und Neustarts. Das Klangmaterial besteht aus vokalen Improvisationen Michiko Hirayamas, die auf einer anderen Aufnahme festgehalten sind.53 Hier hören wir den Anfangs-„Schrei“ (Klangtyp A, Minute 39:14–39:15) und das „zweite Thema“ (Klangtyp B, Minute 38:39–38:48) in der Originalform. Scelsi greift nur selten in die Improvisationen ein, aber wenn, dann sind seine Anweisungen sehr charakteristisch. So fordert er Michiko Hirayama auf: „Fai lo strillo!“ (Mach den Schrei!) oder „Fai una cosa violenta“ (Mach etwas Heftiges!).
Die gesamte Aufnahme des „Canto“ XVI ist rückläufig. Auf einem anderen Tonband kann man zwei unvollständige Vorfassungen hören, die zweite davon in der originalen Abspielrichtung.54 Die Endfassung ist vollständig verhallt, die erste Vorfassung zum großen Teil, die zweite gar nicht. Michiko Hirayama hat das Stück stets mit elektronischem Hall aufgeführt und eingespielt. Der „Canto“ beginnt mit einem kurzen steigenden Glissando in hoher Lage (A1). Im Urzustand, das heißt fallend und ohne Hall, ist es auf dem Tonband mit den Vorfassungen ebenfalls erhalten.55 Beim zweiten Mal (ab T. 4) schließt sich eine Phrase aus fünf kurzen Glissandi an, von denen das letzte nicht transkribiert wurde (A1+2). Nun folgen Wiederholungen und Varianten dieser Klangereignisse, bis in T. 33 ein kontrastierender Teil B beginnt, ein kehliger („gutturaler“), perforierter Klang in tiefer Lage mit einem doppelten Glissando-Abschluss. Eine ähnliche Klangaktion finden wir auf dem Band mit den Vorfassungen, nur wiederum vorwärts und ohne Hall.56 Beide Klangtypen wechseln sich das ganze Stück über ab, so dass sich der folgende Formaufbau ergibt:
A – B – A’ – B – A’’ – B’ – A’’’ – B’’ – A’’’’
Für die Tonbandaufnahme sind laute Geräusche beim Stoppen und Starten des Bands sowie abrupte Wechsel von starkem Rauschen und völliger Stille charakteristisch. Aber gerade diese unbeabsichtigten Begleiterscheinungen, die bei einer konzertanten Aufführung naturgemäß fehlen, üben einen starken Reiz aus: Die Originalaufnahme Scelsis ist auf ihre Weise mindestens so faszinierend wie eine vokale bzw. instrumentale Interpretation.
Welche Klangquelle Scelsi im „Canto“ XVII verwendet hat, lässt sich nicht mit Sicherheit bestimmen.57 Die Abspielrichtung lässt sich auch aus den Umweltgeräuschen nicht erschließen, da die Aufnahmen anscheinend hin und her kopiert wurden. Außerdem ist alles stark verhallt. Auch über die Bandgeschwindigkeit kann man nur Vermutungen anstellen. Möglicherweise handelt es sich um eine falsettierende Männerstimme, die liegende Töne und kleine Glissandi in der Art heulender Wölfe singt. Fast möchte man an ein schamanisches Ritual denken. Aus diesem Material hat Scelsi ein Stück aus acht Abschnitten (a–h) komponiert. Abschnitt f bringt Abschnitt c in rückläufiger Richtung. Das Stück geht vom Ton e1 aus, erweitert den Tonraum nach unten und besonders nach oben und kehrt zum Schluss wieder zum Ausgangston zurück. Insofern haben wir es mit einer traditionellen Bogenform zu tun.
Zu diesem Stück gibt es sechs Vorfassungen. Die Vorfassung A unterscheidet sich nur dadurch von der endgültigen Version, dass die Abschnitte f und h vertauscht sind.58 Auf zwei anderen Tonbändern befinden sich die Vorfassungen B und C59 sowie D und E.60 Besonders rätselhaft ist die Vorfassung F.61 Sie gliedert sich in vier Gruppen zu je einem bis vier Abschnitten. Die erste und dritte Gruppe unterscheiden sich durch das halbe Tempo von den beiden anderen. Zwischen der zweiten und dritten Gruppe befinden sich drei Abschnitte mit Vogelstimmen, die Ausschnitte einer längeren Schallplattenüberspielung auf einem anderen Tonband sind.62 Einen Berührungspunkt der Tierstimmen zu den vokalen Aufnahmen kann man in ihrem repetitiven Duktus sehen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Scelsi die hier als Vorfassung F bezeichnete Aufnahme einschließlich der Vogelstimmen als eigenes Werk konzipiert hat. Die Tonbandschachtel trägt von seiner Hand die Aufschrift „Esorcismi“ (Exorzismen), die Schachtel mit den Vorfassungen D und E ist mit „esorcismi per basso“ (Exorzismen für Bass) beschriftet. Eine Notenfassung des ganzen Komplexes scheint es aber nicht zu geben. Michiko Hirayama zufolge soll Scelsi davon überzeugt gewesen sein, dass nur das Hören der Aufnahme die Substanz des „Canto“ XVII vermitteln könne, die Noten seien dazu nicht ausreichend.63
Ein exzessives Sampling liegt auch dem „Canto“ XVIII zugrunde. Die Bandaufnahme besteht aus zwanzig Teilen:64
a 45:10 (Auftakt zu T. 1) A
b 45:21 (T. 5)
c 45:49 (T. 16) B
d 45:54 (T. 18)
e 46:10 (Auftakt zu T. 25) A
f 46:32 (T. 33) B
g 46:40 (Auftakt zu T. 37) A
h 46:44 (Auftakt zu T. 39) B
i 46:52 (T. 42) (Pause)
j 46:55 (T. 43) A
k 46:59 (T. 45) B
l 47:03 (T. 46) A
m 47:12 (T. 50) (Pause)
n 47:13 (T. 51) B
o 47:24 (T. 55–56) A (Viertelnote des2 nicht transkribiert)
p 47:36 (T. 61–62) (Beckenschlag)
q 47:37 (T. 62) B
r 47:40 (T. 63)
s 47:46 (T. 67) A
t 48:02–48:03 (T. 74) (Rauschen)
Dabei wechseln sich immer zwei Klangquellen ab. Klangquelle A ist die Schallplatte „Tumuc Humac. Musique de la haute forêt amazonienne“, die wir schon vom „Canto“ XV kennen. Es handelt sich hier um den vorletzten Track in der Gruppe „Le village Indien“ mit dem Titel „Flûte d’amour“. Auch dieser Track wird rückwärts abgespielt. Aus der ca. 70 Sekunden langen Aufnahme wurden verschieden lange Teile ausgeschnitten. Der längste ist Abschnitt b mit ca. 26 Sekunden, die kürzesten sind die Abschnitte g und j mit je ca. 4 Sekunden Dauer. Die pentatonische Flötenmelodie beschränkt sich auf die Töne e1, fis1, a1, h1 und d 2, wobei Tosatti Spielnuancen akribisch als mikrotonale Abweichungen oder Vorschlagsnoten notiert. Die Klangquelle B, die ebenfalls wie eine Flöte klingt, konnte bisher noch nicht identifiziert werden. Aus einer 21 Sekunden langen Aufnahme hat Scelsi acht Teile ausgeschnitten. Der längste Abschnitt ist d mit 17 Sekunden, der kürzeste q mit gut 2 Sekunden Dauer. Die pentatonische Skala des2, fes2, ges2, as2, ces3 und des3 ist instabil und rutscht manchmal um einen halben Ton nach unten.65
„Canto“XX besteht ausschließlich aus der Wiederholung des Kleinterzklangs b – des1, dazu kommen die um einen Halbton höheren Vorschlagsnoten im ersten Takt. Obwohl das Stück zweistimmig ist, schreibt die Notenausgabe für die Ausführung nur „Voce“ (Stimme) vor. In Michiko Hirayamas Handexemplar lesen wir jedoch den – anscheinend von Scelsi selbst – handgeschriebenen Zusatz „con flauto dolce basso“ (mit Bassblockflöte). In der Tat singt die Interpretin in den Aufnahmen und Aufführungen in eine Bassblockflöte hinein. Der Klang ist dem von Scelsis Originalaufnahme sehr ähnlich – einschließlich des starken Halls. Man darf also annehmen, dass Scelsi hier, ebenso wie im „Canto“XVI, eine Aufnahme verwendet, die er in Zusammenarbeit mit Michiko Hirayama erstellt hat. Scelsis Version ist aus vier Teilen zusammengesetzt, die alle ungefähr an der gleichen Stelle beginnen. Die ersten beiden Teile (in der Notenausgabe ab T. 1 bzw. T. 3) dauern nur 6 bzw. 7 Sekunden, die anderen (ab T. 5/3+ bzw. 17) 27 bzw. 28 Sekunden. Vor und nach dem vierten Teil sind noch Fragmente einer früheren Aufnahme zu hören.
Die „Canti del Capricorno“ bilden eher eine Sammlung einzelner, sehr verschiedener Stücke als ein zyklisches Werk im eigentlichen Sinne. Hier eine Übersicht über die unterschiedlichen kompositorischen Ansätze der einzelnen „Canti“:
I Gong mikrotonal (von wechselnden Tönen aus)
II Kontrabass mikrotonal (mit Bordun)
III melodisch
IV mikrotonal
V melodisch
VI melodisch
VII Saxophon melodisch (beide Stimmen)
VIII melodisch
IX melodisch
X melodisch
XI melodisch
XII mikrotonal
XIII melodisch
XIV Ein-Ton
XV Schlagzeug Samples (ethnologische Schallplatten- und Gitarrenaufnahmen)
XVI Samples (Stimme)
XVII Samples (Stimme)
XVIII Samples (ethnologische Schallplattenaufnahme)
XIX Schlagzeug melodisch (ethnologische Schallplatten- und Gitarrenaufnahmen)
XX Bassblockflöte Samples (Stimme mit Bassblockflöte)
Scelsis Œuvre zeugt von einer unermüdlichen Suche nach neuen Klängen und Kompositionsverfahren, einer schier unerschöpflichen Experimentierlust. Die Bedenkenlosigkeit, mit der er Musik anderer Ethnien und sogar Werke zeitgenössischer Komponisten als Material benutzte, mag man als irritierend empfinden. In dieses Bild passt auch, dass er seine Mitarbeiter:innen zwar als musikalische Handwerker respektierte, sie aber nicht als wahre Künstler ansah und als „Kopisten“ abqualifizierte.66 So verwirklichte Scelsi die Idee eines gewissermaßen totalen Künstlertums, dem alles und alle zu dienen haben, dem die ganze Welt Klang wird.
1 Scelsi selbst oder von ihm beauftragte Personen schrieben im Lauf der Jahre mehrere Werkverzeichnisse. Die darin angegebenen Entstehungsjahre beziehen sich vermutlich auf die Aufnahme der Improvisation. Allerdings stimmen die Angaben in den verschiedenen Verzeichnissen nicht immer überein, und in späteren Verzeichnissen tauchen oft Werke mit früheren Entstehungszeiten auf. Viele Partituren tragen zusätzliche Editionsangaben („Proprietà dell’autore“, „Edizioni dell’autore“, „Copyright by G. Scelsi“ und ähnliche) und eine Jahresangabe, die sich wahrscheinlich auf die Fertigstellung der Partitur bezieht.
2 Eine Gruppe von Klavierwerken ist auf 1930 bis 1941 datiert, doch handelt es sich dabei zweifellos um Rückdatierungen.
3 Elisabetta Piras, Mario Baroni, Gianni Zanarini, „Improvvisazioni di Giacinto Scelsi: il caso problematico dell’ondiola“, in: „Ii suoni, le onde“, Nr. 19/20, Fondazione Isabella Scelsi, Rom 2007/08, S. 4.
4 „,Ich bin kein Komponistʻ. Gespräch mit Franck Mallet, Marie-Cécile Mazzoni und Marc Texier“, in: „Giacinto Scelsi, Die Magie des Klangs. Gesammelte Schriften“, herausgegeben von Friedrich Jaecker, Köln: MusikTexte, 2013, Bd. 2, S. 715.
5 NMGS0142-592, Riv@9,5_01.L-56.mp3, 0:44–4:09. Die Archivsignatur NMGS ist die Abkürzung von „Nastro magnetico Giacinto Scelsi“ („Magnetband Giacinto Scelsi“).
6 Mit einem ähnlichen Rädchen auf der anderen Seite kann man die Reinheit der Oktaven regeln.
7 Der Autor stellte erste Forschungsergebnisse zu diesem Thema am 9. August 2014 bei einem Symposion im Rahmen der 47. Internationalen Ferienkurse für Neue Musik 2014 in Darmstadt unter dem Titel „Fläche, Textur, Pasticcio. Giacinto Scelsis Tonbandkompositionen“ vor (nachzulesen in „Scelsi Revisited backstage“, herausgegeben von Björn Gottstein und Michael Kunkel, Büdingen: Pfau-Verlag, 2020, S. 68–76). Am 3. Dezember 2015 folgte auf der internationalen Tagung „Musica e tecnologia negli anni Cinquanta. La creatività integrata di Giacinto Scelsi e Vieri Tosatti“ in Rom der Vortrag „Il compositore al buio. Procedimenti tecnici – problemi risultanti“ und am 9. Januar 2016 im Rahmen des 3. Festivals Giacinto Scelsi der Vortrag „Der Komponist im Dunkeln. Fremdaufnahmen im Werk von Giacinto Scelsi“.
8 In früheren Werkverzeichnissen betitelte Scelsi das Stück mit „Riti (no 2 marcia funebre)“.
9 MGS0072-521, Riv@19_01.L-56.mp3, 2:15–4:32. Auf einem anderen Tonband (NMGS0338-588, Riv@19-RVRS_03.R-128.mp3, 19:05–21:07) ist die gleiche Aufnahme in doppelter Geschwindigkeit zu hören und unmittelbar darauf ein Ausschnitt in originaler Geschwindigkeit.
10 NMGS0143-637, Riv@9,5-RVRS_01.R-56.mp3, 0:22–13:24.
11 Radiocorriere, Jg. 36, Nr. 24, Turin: RAI, 1959, S. 45.
12 NMGS0180-160, Riv@19_02.L-56.mp3, 5:58–9:09.
13 Bisher konnte nur eine Vorfassung des zweiten Satzes ausfindig gemacht werden, nämlich NMGS0151-570, Riv@19_01.L-56.mp3, 6:04–10:25. Auf der Tonbandschachtel lesen wir „c’e uno dei Presagi“ ([hier] gibt es einen [Satz] aus Presagi). Auffällig ist, dass in der Partitur die Takte 23–43 zum Teil notengetreu in den Takten 63–83 wiederkehren.
14 NMGS0103-363, Riv@9,5_01.L-56.mp3, 48:57–53:55.
15 NMGS0216-367, A08@76REV-56.mp3, 0:00–0:57 und NMGS0123-404, VSpeed@152-56.mp3, 0:07–1:08; auf NMGS0129, A02@152-56.mp3, 0:00–0:20 befindet sich eine verkürzte Version.
16 Radiocorriere, Jg. 35, Nr. 49, 1958, S. 5.
17 Radiocorriere, Jg. 37, Nr. 6, 1960, S. 37.
18 Auf dem Plattencover werden zusätzlich noch die Nippon University Chorus Group und vier Chorsolisten genannt.
19 NMGS0003-234, mono_03-56.mp3, 0:10–33:50 und mono_01-56.mp3, 0:00–10:22.
20 NMGS0216-367, A08@76REV-56.mp3, 0:00–0:57. Die Zeitangaben der zehn Teile beziehen sich auf die digitalisierte Plattenaufnahme.
21 NMGS0216-367, A08@76REV-56.mp3, 0:14–0:32.
22 Scelsi, „Die Magie des Klangs“, Bd. 2, S. 657.
23 Archivsignatur des Scelsi-Archivs in Rom.
24 Scelsi, „Die Magie des Klangs“, Bd. 1, S. 320–321.
25 In dem Konzert, das ausschließlich den Werken Giacinto Scelsis gewidmet war, wurden außerdem „Hymnos“ (1963), „Hurqualia“ (1960) und „Pfhat“ (1974) aufgeführt.
26 NMGS0097-558, Riv@9,5_01.L-56.mp3, 2:42–4:03 (unvollständige Fassung) und 4:24–33:28.
27 NMGS0097-558, Riv@9,5_01.L-56.mp3, 17:20.
28 In „Uaxuctum“ müsste der zweitobere Ton h eigentlich einen halben Ton höher stehen, das dritte Horn gleitet erst kurz vor dieser Stelle vom c1 zum h. Der untere Ton müsste ein B1 sein; es sieht so aus, als ob in der Partitur ursprünglich ein♭ stand, das erst nachträglich zu einem Auflösungszeichen geändert wurde.
29 NMGS0473-445, Riv@19_01.R-128.mp3, 0:01–25:20. Anschließend folgt „Ionisation“, ebenfalls von einer Schallplatte überspielt.
30 Dem Autor stehen zurzeit die ersten 547 von ca. 730 Tonbändern zur Verfügung. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass sich auf den übrigen Bändern noch eine weitere Aufnahme von „Déserts“ befindet.
31 Radiocorriere, Jg. 34, Nr. 19, 1957, S. 45.
32 Die Aufnahme muss zu diesem Zweck um eine Oktave und eine große Septime nach unten transponiert werden (siehe auch die folgende Übersicht über den 3. Satz).
33 E-Mail an den Verfasser vom 15. Februar 2004.
34 NMGS0097-558, Riv@9,5_01.L-56.mp3, 2:42–4:03 (unvollständig), 4:24–9:53 und 10:36–16:19.
35 Ungenannter Autor, Vieri Tosatti: „Giacinto Scelsi c’est moi“, in: „Il Giornale della Musica“, Nr. 35, Januar 1989, S. 1, bzw. „Il segreto di Giacinto Scelsi“, S. 10, auf deutsch erschienen unter dem Titel „Giacinto Scelsi: das bin ich“, in: MusikTexte, Heft 28/29, Köln, März 1989, S. 111.
36 NMGS0039-686.
37 Die drei letztgenannten Werke auf dem Tonband NMGS0131-091 wurden in einem Edgard Varèse gewidmeten Konzert vom 8. September 1966 im Rahmen der Biennale in Venedig aufgeführt. Scelsi hat die Rundfunkübertragung im selben Jahr aufgezeichnet, in dem nach seiner eigenen Datierung „Uaxuctum“ entstanden ist.
38 Scelsi, „Die Magie des Klangs“, Bd. 2, S. 605.
39 NMGS0097-558, Riv@9,5_01.L-56.mp3, 0:16–1:01.
40 NMGS0210-159, Riv@19_02.L-56.mp3, 34:14–37:15.
41 NMGS0270-159, Riv@9,5_01.L-56.mp3+Riv@9,5_01.R-56.mp3, 16:49–19:55.
42 NMGS0335-524, Riv@9,5-RVRS _01.R-128.mp3, 27:16–29:03.
43 Scelsi, „Die Magie des Klangs“, Bd. 1, S. 326.
44 Archiv der Fondazione Isabella Scelsi, Rom, Inventarnummer ADA 44.
45 Scelsis Aufnahme enthält übrigens erhebliche Nebengeräusche, die nicht von der verwendeten Platte stammen.
46 Siehe die Originalaufnahme NMGS0335-524, Riv@9,5-RVRS _01.R-128.mp3, 27:16–29:03.
47 Canto XV: | 1 | 2/1 | 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8/1–2 | 9 | 10 | ... |19 |
Canto XIX: | 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | – | 7 | 8 | 9/1–2 | 9/3–4, 10/1–2 | 10/3–4, 11/1–2 | ... |19/3–4 |
Canto XV: | 20 | 21 | 22 | ... | 46/1|.
Canto XIX: | 20/1–2, 20/3–4 | 21 | 22 | ... | 46/1|.
48 Inventarnummer ADA 88.
49 NMGS0185-352, Riv@9,5_01.R-56.mp3+Riv@9,5_01.L-56.mp3, 55:20–57:13.
50 Scelsi, „Die Magie des Klangs“, Bd. 2, S. 672–673.
51 Scelsi begibt sich mit den „Canti del Capricorno“ XV und XIX in eine gewisse Nähe zu Pierre Schaeffers „Variations sur une flûte mexicaine“ (1949), in der ebenfalls eine volkstümliche Flöte von perkussiven Klängen begleitet wird.
52 NMGS0210-159, Riv@19_02.L-56.mp3, 37:19–41:32.
53 NMGS0305-584, Riv@9,5_01.L-128.mp3, 31:22–44:23.
54 NMGS0146-243, Riv@9,5_01.L-56.mp3, 44:09–45:54 und Riv@19_02.R-56.mp3, 20:36–22:53.
55 NMGS0146-243, Riv@19_02.R-56.mp3, 20:10–20:11.
56 NMGS0146-243, Riv@19_02.R-56.mp3, 19:45–20:07.
57 NMGS0210-159, Riv@19_02.L-56.mp3, 41:42–45:04.
58 NMGS0146-243, Riv@19_02.L-56.mp3, 12:21–15:39.
59 NMGS0147-134, Riv@9,5_01.R-56_stretched_to_19_in_reverse.MP3, 0:45–2:20 and 4:06–5:49.
60 NMGS0185-352, Riv@19_01.L-56.mp3, 0:08–3:57 and Riv@9,5_01.R-56.mp3, 59:26–1:03:40.
61 NMGS0196-020, Riv@19-RVRS_09.R-56.mp3, 0:26–6:57.
62 NMGS0185-352, Riv@9,5_01.R-56.mp3, 34:01–42:44.
63 Daniela Tortora, „,Le voci del mondoʻ: Genesi, scrittura e interpretazione dei ,Canti del Capricornoʻ“, in: „Il saggiatore musicale, “ 11. Jg., Nr. 1, Olschki, Florenz 2004, S. 139.
64f Der Analyse liegt die Aufnahme auf dem Tonband NMGS0210-159 zugrunde (Riv@19_02.L-56.mp3, 45:10–48:03). Dass es sich hier um eine Kopie handelt, kann man an dem angeschnittenen Anfang leicht erkennen. Vollständige Aufnahmen sind auf den Tonbändern NMGS0112, Riv@9,5-RVRS.R-56.mp3, 36:23–39:08 und NMGS0342-611, Riv@9,5_02.L-128.mp3, 44:15–47:00 zu hören, eine weitere angeschnittene auf NMGS0416-405, Riv@19_01.L.mp3, 24:24–27:17.
65 Das fes2 notiert Tosatti stets als e2, die Töne des2 und ges2 je nach dem Zusammenhang auch als cis2 und fis2.
66 Scelsi, „Die Magie des Klangs“, Bd. 2, S. 225.