Giacinto Scelsi: das bin ich
Hervorgeholtaus MusikTexte 28/29 vom März 1989: Vieri Tosatti über seine Arbeit für Scelsi
Vieri Tosatti: Ich würde gerne zwei Dinge vorausschicken: Erstens habe ich nicht im mindesten vor, etwas für mich einzufordern oder zu beanspruchen: Mein Schritt ist allein motiviert durch die im Raum stehenden Fragen, auf deren Beantwortung ich zunehmend gedrängt wurde. Zweitens, wenn ich nun etwas sagen werde, was sicherlich kein positives Licht auf die Figur des Komponisten Giacinto Scelsi werfen wird, bedeutet das nicht, daß ich irgendetwas gegen ihn hätte. Ich bin jedoch aufgebracht über die Mystifizierung von Scelsis Musik, die dazu führt, daß seine Kompositionen für gut gehalten werden, ebenso wie hundert Prozent dessen, was heute von der angesehenen Kritik als neue Musik apostrophiert wird, allein aus diesem Grund für gut gehalten wird. Deshalb fragen Sie mich bitte alles, was Sie über Giacinto Scelsi wissen wollen, und ich werde Ihnen antworten.
Giornale della Musica: Wann hat diese „Zusammenarbeit“ begonnen?
Präzise im Jahr 1947. Ich erinnere mich sehr genau daran, weil es genau ein Jahr vor meinem Hochzeitstag war. Ich weiß, daß es auch vor mir einen anderen, sagen wir, „Mitarbeiter“ gegeben hat...
Den Sie kennen?
Nein, nein. Meine Mitarbeit läßt sich in drei Abschnitte einteilen: zunächst in eine, sagen wir, zwanglose Phase, in der meine Zusammenarbeit mit Scelsi folgendermaßen aussah: Er legte mir eine Gruppe mit sieben, zwölf Notenköpfchen vor und sagte zu mir: „Das könnte eine Reihe geben.“ „Warum nicht“, antwortete ich. Und ich fügte einige Vorzeichen, einige Bs und Kreuze hinzu, damit diese zwölf Noten wirklich eine Reihe ergaben, wonach man damit beginnen konnte, sie mittels der vier möglichen Verfahren zu transformieren. Dies war Scelsi bekannt, er wußte, daß es vier Formen gab, mit einer Reihe umzugehen. Ich stellte ihn also zufrieden und schrieb ihm das Stück. Auf diese Weise schrieb ich ihm das „Primo Quartetto“ usw., während ich ein berühmtes Lied, wenn auch nicht komponierte, so doch fertigstellte: „La Nascità del verbo“, das vermutlich schon von jenem ersten Mitarbeiter begonnen worden war. Ich hätte damals nicht geglaubt, daß es sich um etwas handeln könne, das ein öffentliches Interesse finden würde; Scelsi selbst sagte mir: „Kümmern Sie sich nicht um mich, denken Sie an Ihre Musik, meine ist nur wenig wert. Für mich ist sie von psychologischem Wert, sie zerstreut mich, erhält mich lebendig.“ Ich muß daher gestehen, daß ich jene große Partitur des „La Nascità del verbo“ ein wenig zusammenschusterte. Dann geschah etwas Seltsames, das einen Skandal heraufbeschwor. Es gab damals die Internationale Gesellschaft für Neue Musik, die IGNM, und es existierte auch eine italienische Sektion dieser Gesellschaft, die der IGNM Partituren italienischer Komponisten zusandte, damit sie öffentlich aufgeführt würden. Die italienische Sektion schickte selbstverständlich Partituren bereits bekannterer italienischer Komponisten, ich erinnere mich da zum Beispiel an Riccardo Malipiero und Camillo Togni: insgesamt vier oder fünf Komponisten, deren Werke von der IGNM aber abgelehnt wurden. Scelsi dagegen schickte (was die Satzung erlaubte) in eigener Initiative „Nascità del verbo“ ein, und die IGNM, die die Partituren, die die italienische Sektion geschickt hatte, für untauglich erklärte, akzeptierte dagegen „La Nascità del verbo“. Goffredo Petrassi hatte damals in Paris den französischen Vorsitzenden [Roger] Desormière getroffen, der ihm sagte: „Sie haben in Italien einen großen Komponisten, Sie haben Giacinto Scelsi: Er hat ,La Nascità del verbo‘ geschrieben…“ Petrassi war über diese Begebenheit sehr erheitert, denn er wußte genau, wie die Dinge standen…
Petrassi war also informiert, daß Sie es geschrieben hatten?
Ja, ja. Scelsi war zwar eine Persönlichkeit von bemerkenswerter Kultur und vielen Interessen (er interessierte sich auch für orientalische Philosophie); aber vom Standpunkt der Praxis aus betrachtet, war er ein wenig naiv… Die Tatsache, daß er jene zwölf Notenköpfe gezeichnet hatte, aus denen ich dann ein Stück gemacht hatte, wer weiß, in seiner Vorstellung war das vielleicht, wie soll ich sagen, eine Art von Symbiose… Aber um auf die Geschichte mit der IGNM zurückzukommen: Der Sekretär der italienischen Sektion, das war damals Maria Peragallo, rief mich an und sagte: „Wie konnten sie nur die besten unserer Komponisten abweisen, um dann einen Dilettanten zu akzeptieren? Du wirst jetzt als Zeuge auftreten.“ Und ich sagte: „Nein, Maria, es tut mir leid. Ich werde nichts bezeugen. Vor allem arbeite ich für Scelsi, der mich für meine Arbeit bezahlt, und ich kann auf keinen Fall gegen ihn aussagen. Außerdem sehe ich nicht ein, warum ich gegen eine Musik aussagen sollte, die meines Erachtens nicht viel weniger wert ist als alles andere, was für gut gehalten wird…“
Zweite Phase: die Improvisationsphase am Klavier. Scelsi setzte sich ans Klavier und spielte, das heißt, er klimperte, wie ein Kind klimpert; es kam, wie es kam. Zunächst strich ich die Segel. Ich sagte: „Nein, es ist unmöglich, ich höre nichts aus diesem Durcheinander heraus“ (er spielte und nahm es auf Tonband auf), und ich gab zu, daß man für solche Dinge ein besonderes Gehör braucht…
Ich nannte ihm den Namen von Sergio Cafaro, der ein unglaubliches Gehör hatte… So kam es, daß Cafaro für eine bestimmte Zeit diese Dinge vom Tonband transkribierte. Aber Scelsi hielt die Transkriptionen von Cafaro nicht für besonders gelungen, und so machte ich es schließlich, um ihn zufrieden zu stellen, auf andere Weise… In diesem Fall war die Zusammenarbeit allerdings weniger umfangreich, darüber gibt es keinen Zweifel, denn es gab als Ausgangspunkt immerhin diese Improvisationsgrundlage.
Um welches Stück handelte es sich?
Um fast alle Stücke für Klavier. Dritte Phase: die Phase der elektronischen Tastaturen. Scelsi kaufte zwei sogenannte Ondiolinen. Das sind elektronische Tastenapparate, die nur einen einzigen Ton hervorbringen können. Mit diesen Ondiolinen erzeugte er kleine Variationen in der Intonation oder der Klangfarbe, indem er eine Taste drückte und ein Rädchen drehte. Da ihm dies zu unbedeutend schien, führte er uns dasselbe [auf Tonband] rückwärts gespielt vor und sagte zu mir: „Könnte dies deiner Meinung nach ein Konzert für Violine und Orchester sein?“ Tatsache ist, daß wir aus diesem einen Ton die „Quattro pezzi per orchestra su una nota sola“ hervorgebracht haben, und auf diese Weise sind praktisch auch alle großen Partituren entstanden: Er drückte seinen Finger auf die Ondioline, und den ganzen Rest habe ich mir ausgedacht.
Es gibt dann noch eine vierte Phase, vielleicht die seltsamste. Nennen wir sie die abstrakte Phase. 1966 hatte ich meine Zusammenarbeit mit Scelsi unterbrochen, und ich hatte fast die ganze Arbeit einem meiner Schüler, Riccardo Filippini, übergeben. Während dieser Zeit bat mich Scelsi jedoch wiederholt darum, zurückzukehren und einige Dinge für ihn zu machen. Dann gab er mir Zeichnungen, sehr einfache Zeichnungen, ein Quadrat, einen Kreis. Und ich mußte auf der Grundlage dieser Zeichnungen Musik schreiben.
Gab es eine genaue Vereinbarung zwischen Ihnen und Scelsi in Hinblick auf Ihre Diskretion und auf den finanziellen Ausgleich?
In finanzieller Hinsicht wollte ich stets jegliches Mißverständnis vermeiden, das heißt, ich habe immer darauf bestanden, daß er bezahlte, als ob es sich um Unterrichtsstunden handelte: soundsoviele Unterrichtsstunden machten soundsoviel... Ich wollte keine Mißverständnisse. Was die Diskretion betrifft, so sagte Scelsi mir immer wieder: „Schreiben Sie die Noten, aber nicht den Text“, oder: „Notieren Sie den Text in Versalien, weil sonst die Handschrift zu erkennen ist“; er war sich nicht im klaren darüber, daß man eine Handschrift auch anhand von Notenzeichen identifizieren kann. Mir kam dieses Spielchen von Scelsi immer etwas kindisch vor, ebenso kindisch wie alles, was sie heute machen. Ich sehe nicht ein, warum man aus Scelsi einen so außergewöhnlichen Fall macht. Vielleicht steht er ein bißchen besser da, nicht zuletzt, weil ich meine Hände im Spiel hatte – ich bin schließlich ein Musiker, alles in allem.
Wo fanden diese „Treffen zur Zusammenarbeit“ gewöhnlich statt?
Bei Scelsi zuhause und gelegentlich auch bei mir.
Ist es Ihnen schwergefallen, in all diesen Jahren zu schweigen, besonders seit Scelsis Berühmtheit ständig zunahm?
Nein, das ist mir gar nicht schwergefallen. Es hat mich sogar sehr amüsiert, weil ich, ich wiederhole es, überhaupt nichts gegen Scelsi habe. Es hat mich dagegen sehr amüsiert, zu sehen, wie eine Sache ernst genommen wurde, von der ich nur zu genau wußte, wie sie entstanden war. Aber in der italienischen Musikszene wußten viele darüber Bescheid. Einige Namen stehen da für viele: Giorgio Vidusso, Giorgio Turchi, Goffredo Petrassi...
Andrea Gronemeyer hat den Text übersetzt, den ihr Wolfgang Rihm zugänglich gemacht hatte: „Il Musicista romano racconta la sua verità sul discusso compositore [Der römische Musiker enthüllt seine Wahrheit über den umstrittenen Komponisten]. Vieri Tosatti: ,Giacinto Scelsi c’est moi’“, in: „Il giornale della musica. Mensile di informazione e Cultura musicale”, 5. Jahrgang, Nr. 35, [Januar] 1989.