Elektrizität ohne Elektronik

Porträt

Die irische Komponistin Ann Cleare

„Lebendig zu sein bedeutet, dass alles mit allem verbunden ist. Für mich ist es schwer vorstellbar, dass ein einzelnes musikalisches Element nicht Teil einer größeren Welt, eines Gesamtzusammenhangs ist. Manche Klänge kennen wir aus Naturkontexten, andere aus dem Alltag. Und selbst wenn ich mich auf eine bestimmte akustische Kleinigkeit fokussiere, dann sehe ich sie in Verbindung mit den Dingen, die sie umgeben. Und diese Dinge komponiere ich dazu. Jeder Klang interagiert mit seinem Umfeld und seiner Herkunft. Es ist mir wichtig, dass man merkt, dass die Klänge etwas mit dem Leben zu tun haben. Sie sollen lebendig sein, sich bewegen. Man könnte sagen, dass ich meine Musik als Teil der Umwelt betrachte.“

Das sagt die 1983 in Irland geborene Komponistin Ann Cleare. Sie schreibt Musik, die weit weg führt von den zahmen, makellosen Schönklängen, für die westliche Orchesterinstrumente bekannt sind. Cleares Kompositionen sind wie wechselhafte Wettererscheinungen, wie ineinander verschlungene Energieflüsse. Die Basis dafür sind oft komplizierte instrumentale Techniken oder bis ins letzte Detail ausgetüftelte Zusammenklänge und Instrumentenkombinationen – hochartifizielle Setzungen also, die gleichzeitig wirken wie klanggewordene Naturphänomene; eine Musik, die elektrisiert. Nach Melodien, Phrasen, Akkordfolgen oder rhythmischen Mustern sucht man in Cleares Stücken fast vergeblich. Ihre Musik lässt sich vielmehr in Konsistenzen oder Aggregatzuständen fassen: Festes wird irgendwann flüssig, Flüssiges gasförmig, grobes Granulat zerstäubt zu feinem Puder und glatte Flächen bekommen Falten oder Risse. Es sind Klänge, die ständig in Bewegung zu sein scheinen, die permanent ihre Gestalt ändern. Und genau in dieser Wandelbarkeit und dem potenziell unendlichen Facettenreichtum von Klang liegt für Cleare das magische Moment von Musik.

„Bei einem Großteil des Konzertpublikums gibt es diese Erwartungshaltung, dass Musik schön sein muss. Man soll sich wohl fühlen können. Aber diese Dinge ziehen mich persönlich nicht besonders an. Mir geht es beim Komponieren eher darum, dass mich etwas fasziniert. Und das muss nicht immer etwas Schönes sein. Manchmal sind es sogar hässliche Dinge, manchmal sind sie auch witzig, seltsam, traurig – oder eben doch schön. Aber es geht mir vor allem darum, für meine Musik etwas zu finden, das mit der unmittelbaren Realität zu tun hat. Und das ist selten Schönheit im konventionellen Sinne, sondern ich bin immer auf der Suche nach Dingen, über die es interessant ist nachzudenken; Dinge, die man durch die Musik entdecken und erforschen kann. Und ich hoffe, dass es die Hörer:innen meiner Stücke genauso erleben.“

Für ihre forscherische musikalische Herangehensweise fordert die Komponistin in der Regel eine Fülle erweiterter Spieltechniken und stark präparierter Instrumente. Auch kommen oft Klangobjekte zum Einsatz, die Ann Cleare selbst entwickelt hat. Diese Dinge sind für sie kein optionaler Zusatz. Sie bilden vielmehr den Kern ihres Musikverständnisses:

„Für mich sind erweiterte Instrumente und Spieltechniken das zentrale Material, mit dem ich arbeite. Das hat wahrscheinlich damit zu tun, dass ich mich viel mit Klängen aus Natur und Alltag beschäftige. Oft nehme ich Geräusche auf, deren Klanglichkeiten komplex und unharmonisch sind, die keine klar benennbaren Tonhöhen haben. Und solche komplexen akustischen Gestalten lassen sich auf Instrumenten nicht mit konventionellen Spieltechniken reproduzieren. Da werden Erweiterungen automatisch notwendig. Ich erinnere mich: Als ich zum ersten Mal Neue Musik gehört habe, war ich völlig überwältigt und tief beeindruckt. Ich habe es als eine Art Bewusstseinserweiterung empfunden, denn mir wurde klar, wie viele Dinge man musikalisch noch ausdrücken kann und wie vielseitig das Klangmaterial sein kann. Seitdem habe ich immer versucht, mit dieser Skala zu arbeiten: mit der größtmöglichen Erweiterung und Ausdifferenzierung von Klang. Und innerhalb dieser Skala mit all ihren experimentellen, geräuschhaften Zwischenstufen findet man hin und wieder auch konsonante, vielleicht sogar tonale Klänge. Gerade in letzter Zeit passiert es mir häufiger, dass aus geräuschhaften Grundmaterialien plötzlich Klänge mit klaren Tonhöhen und einfachen harmonischen Strukturen hervortreten. Und von dort aus fühlen sich die konsonanten Klänge wieder wie eine Erweiterung an – eine Erweiterung der geräuschhaften Klangwelten, in denen ich mich normalerweise bewege.“

Den Weg hin zu ihrer eigenen Musiksprache beschritt Ann Cleare schon im Laufe ihres Studiums bei John Godfrey im irischen Cork. Die Entscheidung, Komponistin werden zu wollen, fiel allerdings eher beiläufig:

„Schon in meiner Kindheit habe ich Musikinstrumente geliebt. Ich mochte es, sie zu spielen und mit ihnen zu experimentieren. Repertoire zu lernen oder besonders virtuos Klavier spielen zu können, interessierte mich weniger. Mir gefielen einfach die Klänge von Instrumenten und die Technik dahinter – die Art, wie sie funktionieren. An der Universität habe ich dann mit einer allgemeinen Musikausbildungen angefangen – einer Mischung aus Musikwissenschaft, Instrumentalspiel, Musiktheorie und auch Komposition. Aber damals wusste ich noch nicht, dass man Komponistin werden kann. Ich hatte auch keine Vorbilder. Zeitgenössische Komponisten kannte ich nicht; Komponistinnen erst recht nicht. Ich habe damals gedacht, ich würde vermutlich irgendwann Musiklehrerin oder etwas ähnliches werden. Als dann mein zweites Jahr an der Universität begann, wurde ich für mehrere Wochen krank und konnte erst später wieder dazustoßen. Die meisten Kurse hatten schon angefangen und ich wäre im Stoff nicht mitgekommen. Deshalb habe ich einen Kompositionskurs ausgewählt, denn der hatte schlichtweg noch nicht angefangen. Es war also eigentlich nur eine Notfall-Entscheidung. Aber ich habe mich in diesem Kurs sofort zuhause gefühlt. Wir haben dort viel Neue und experimentelle Musik gehört und ich dachte: ‚Wow! Ich wusste gar nicht, dass es so etwas gibt!’ Mir war damals nicht einmal klar, dass es überhaupt Musik gibt, die nicht tonal ist; oder dass man über die chromatische Skala hinausgehen kann. Und nach und nach lernte ich, was Musik alles sein kann. Meine Weltsicht änderte sich komplett. Von da an machte ich weiter. Und ich blieb beim Komponieren.“

Ann Cleare studierte später auch am Forschungsinstitut für elektronische Musik IRCAM in Paris, sowie bei Chaya Czernowin und Hans Tutschku in den USA. Ihre Faszination für experimentelle Klangwelten und für alles, was über den Tellerrand eines chromatischen Tonsystems hinausgeht, ist geblieben. Gerade die ersten Berührungsmomente mit Neuer Musik scheinen dabei eine wichtige Rolle gespielt zu haben:

„In meinem ersten Kompositionskurs an der Universität damals ging es darum, Instrumente ‚neu zu denken‘. Und ein Stück, das uns gezeigt wurde, war Luciano Berios ‚Sequenza III‘ für Solostimme – aus heutiger Perspektive ein bekannter Klassiker. Aber ich erinnere mich noch, wie ich das Stück zum ersten Mal hörte. Ich war absolut beeindruckt davon, auf wie vielen Ebenen diese Musik mit mir kommuniziert – klanglich, sprachlich, theatral – und wie vielfältig diese Klänge sind. Dieses erste Hören der ‚Sequenza III‘ war ein wirklich besonderes Erlebnis. Auch die Musik von Iannis Xenakis hat mich stark beeinflusst: diese großen Klangwolken mit all ihren feinen Details. Und auch die räumlichen Aspekte seiner Musik haben mich fasziniert. Genauso war auch die Entdeckung der Spektralisten wichtig für mich. Von ihren Techniken konnte ich vieles für meine eigene Arbeitsweise übernehmen. Denn ich mache gerne Spektralanalysen von Field Recordings oder anderen Tonaufnahmen. Mich interessiert das genaue Analysieren der harmonischen oder unharmonischen Spektren – und damit verbunden auch die Möglichkeit, winzige Details eines Klangs zu verstärken und sie besonders nah an das Ohr der Zuhörerin zu bringen.“

Die Spektralmusik von Gérard Grisey war eine der Inspirationsquellen für Ann Cleare. Sie half ihr bei der Suche nach Möglichkeiten, Musik differenzierter zu denken als nur in zwölf Tönen.

„Man kann so viel mehr Details entdecken, wenn man Klänge stärker ausdifferenziert. Harmonien sind dann nicht mehr nur Dreiklangsschichtungen, sondern es sind komplexe Anordnungen von Tönen und Farben. Rhythmen sind nichts rein Mechanisch-Maschinelles, sondern sie sind Formen der Bewegung – wie Vibrationen und andere komplexe Naturphänomene. Und wenn ich Musik schreibe, dann leihe ich mir gewissermaßen Klanglichkeiten aus diesen nicht-musikalischen Welten aus. In diesen Klanglichkeiten suche ich dann nach Linien, nach Konturen, nach Formen und Farben, die ich in Musik übersetzen kann. Dabei werden automatisch noch weitere Aspekte wichtig wie Textur oder Timbre.“

In Ann Cleares Orchesterstück „phôsphors (… of ether)“ von 2012/13 zum Beispiel sind die Klanggestalten hörbar beweglich. Sie scheinen sich immer wieder langsam zu verwandeln. All diese musikalischen Zustände und Prozesse plant die Komponistin aufs Genauste. Ihre Notation für jedes einzelne Instrument ist äußerst präzise. Das betrifft neben den Tonhöhen vor allem Aspekte wie Energie, Intensität, Timbre oder Gestik. Streichern zum Beispiel schreibt sie mitunter den Druck oder die Strichgeschwindigkeit der Bogenführung vor. Manchmal arbeitet sie auch mit Sprachbildern als Spielanweisungen, etwa: „ein Licht, das näher und näher kommt“, „zwei Taschen mit niemals endender, komplexer Energie“ oder auch: „von Grau bis hin zur Entdeckung der Elektrizität“. Derlei Anweisungen sind für die Musiker:innen natürlich auch Auslegungssache. Insofern klingen Cleares Stücke in verschiedenen Interpretationen oft auffallend unterschiedlich – trotz der präzisen Notation. Diesen Umstand nimmt die Komponistin in Kauf:

„Gerade weil ich mit so unvorhersehbarem Material arbeite, ist es für Musiker:innen sehr schwierig, es immer gleich klingen zu lassen. Natürlich sind einige Dinge klar gesetzt, aber ich arbeite auch viel mit Klängen, die sehr aktiv und schwer zu kontrollieren sind. Wann etwas in der Musik passieren soll, ist meistens klar, aber wie – das bleibt oft bis zu einem gewissen Grad den Interpret:innen überlassen. Viele spezielle Klänge, wie etwa Multiphonics, vibrieren auf ihre ganz eigene Art. Der rhythmische Anteil daran lässt sich nicht immer gleich spielen. Deshalb geht es mir mehr darum, dass die Musiker:innen einen bestimmten Klang in Bewegung setzen, anstatt ihn exakt auf diese oder jene Weise zu spielen. Ohnehin spielen ja alle Interpret:innen unterschiedlich; und jedes Instrument klingt anders. Deshalb lasse ich die Musiker:innen die Klänge auch gerne auf ihre eigene Weise formen. Ich lassen ihnen Raum für ihre Interpretation.“

In der Komposition „on magnetic fields“ für großes Ensemble von 2011/12 etwa teilt Ann Cleare das Ensemble in drei Gruppen auf. Ihr schwebt das Bild von zwei voneinander unabhängigen „Wirbelwinden“ vor, die jeweils durch Sologeigen in Gang gebracht werden; und von einer „Lichtbox“ in der Mitte der Bühne, bestehend aus Harfe, Klavier und Schlagzeug. Die Sologeigen fungieren als „Kontaktdrähte“, die die einzelnen Gruppen elektromagnetisch aufladen und mit Energie versorgen.

Ein metaphorischer Blick wie dieser ist typisch für Cleares Arbeitsansatz. Naturerscheinungen wie Magnetfelder, Wirbelwinde, Feuer, Bewegungsenergie oder elektrische Spannung prägen ihre Vorstellungswelt. Sowohl die Klänge selbst als auch ihre formale Einbindung in eine kompositorische Form leitet sie aus dem Kosmos der chemisch-physikalischen Phänomene ab:

„In den letzten Jahren kommt es bei mir sehr selten vor, dass ich ein Stück zu schreiben beginne, indem ich einfach von einem Klang ausgehe, der mir gefällt. Es ist eher so, dass ich ein Konzept, eine bestimmte größere Idee brauche, bevor die Klänge dazukommen. Und meistens fange ich mit Ideen an, die aus der nicht-musikalischen Welt stammen – Magnetfeldern, Elektrizität und dergleichen. Es sind Dinge, die damit zu tun haben, wie ein bestimmtes System funktioniert oder kommuniziert. Das kann etwas Menschliches sein, aber auch andere Phänomene. Und wenn ich dann einmal meine ‚Arbeitsmetapher‘ gefunden habe, kann ich mir die Frage stellen, wie ich musikalisches Material finde, das mit dieser gedanklichen Welt zu tun hat. Oft muss ich dafür gemeinsam mit den Instrumentalist:innen nach Klängen suchen. Aber diese Arbeit ist sehr gewinnbringend für alle Beteiligten. Denn man findet immer wieder Dinge, die man ohne eine solche Arbeitsmetapher nicht gefunden hätte. Wenn ich beispielsweise nur sagen würde: ‚Dieser Multiphonic klingt toll auf der Oboe; damit arbeite ich!‘, dann könnte ich vielleicht keine unerwarteten Entdeckungen machen. Es geht mir vor allem darum, auf der Suche zu sein. Ich möchte viele neue und verschiedene Materialien finden, mit ihnen arbeiten und sie zusammenbringen – wie beim Orchestrieren.“

Ausgangspunkt von Cleares kompositorischer Arbeit sind oft Field Recordings von Natur- oder Alltagssituationen oder auch einzelne Alltagsobjekte. Von diesen Aufnahmen fertigt sie Spektralanalysen an. Und die Analyseergebnisse übersetzt sie dann in Stimmmaterial für verschiedene Instrumente.

„Das Spektrogramm eines Klangs ist für mich nur ein Ausgangspunkt. Ich übersetze es nicht eins zu eins in Musik. Um mit einem Ensemble oder einem Orchester zu arbeiten, muss man das Material, das man aus einer Spektralanalyse gewinnt, immer etwas verändern. Oder man stellt fest, dass man nur einen bestimmten Teil des Materials für die Musik gebrauchen kann. Und Schritt für Schritt entfernt sich das musikalische Material von seinem Ausgangspunkt. Trotzdem bleibt der Bezug im Groben bestehen. Ein Stück, in dem ich auf diese Weise gearbeitet habe, heißt ‚Earth Waves‘. Es ist für Soloposaune und Vokalensemble geschrieben. Der Posaunist steht in der Mitte der Bühne, die Sänger:innen sind an verschiedenen Positionen im Raum verteilt. Und das musikalische Material in dem Stück habe ich aus Aufnahmen aus der Erde generiert. Mit einem Geophon konnte ich die seismischen Aktivitäten in verschiedenen Böden hörbar machen. Außerdem habe ich Aufnahmen von Wasser gemacht. Und in der Komposition kommt dann sozusagen beides zusammen: seismische Wellen und Wasserwellen. Sie mischen sich und es entsteht ein neues Material, das man in der Mitte des Stücks hört.“

Dass die Ausgangsmaterialien für Ann Cleares Stück „Earth Waves“ von 2017/18 Bodenschwingungen und ihre harmonischen Eigenschaften sind, überrascht nicht. Denn der Blick auf Naturphänomene ist ein wiederkehrendes Motiv in der Arbeit der irischen Komponistin. Noch häufiger allerdings geht ihre Musik auf Objekte aus Metall zurück, etwa Nägel, Schrauben, Muttern, Werkzeuge, Rohre oder alte Maschinenteile.

„Ich lande immer wieder bei Dingen aus Metall – vermutlich, weil ihr harmonisches Spektrum so interessant ist, im Vergleich zu Gegenständen aus Holz zum Beispiel. Wenn ich aus den besonderen harmonischen Eigenschaften eines Metallgegenstands Klänge fürs Komponieren generiere, versuche ich immer, auch die Eindrücke aus der Umgebung mit in die Musik zu nehmen. Angenommen, ich finde ein Metallteil in einer alten Garage, dann mache ich dort meine Aufnahmen mit verschiedenen Mikrofonen aus verschiedenen Richtungen. Jedes Mikrofon liefert eine eigene Art, den Gegenstand zu ‚spielen‘ – wie verschiedene Schlägel bei einem Schlaginstrument. Und mit jedem Mikrofon kann ich andere klangliche Eigenschaften des Gegenstands hervorheben. So kann ich ein möglichst dreidimensionales, detailreiches Bild des Gegenstands erzeugen. Wenn ich dann alles beisammenhabe, beginne ich mit der kompositorischen Arbeit und mit dem Verteilen der Klangkomponenten auf verschiedene Instrumentalstimmen. Es ist schon lustig sich vorzustellen, dass man vielleicht mit einem alten rostigen Stück Metall begonnen hat, das man dann für einen noblen Klangkörper wie ein Orchester instrumentiert. Das sind wirklich verschiedene Welten, die da aufeinandertreffen.“

Und auch in dieser Welt der „domestizierten“, kunstmusikalischen Klänge hat Ann Cleare Objekte gefunden, die sie besonders faszinieren:

„Ich mag die Flöte sehr gerne. Klar, das ist nicht unbedingt das Lieblingsinstrument der meisten Komponist:innen. Aber ich finde, dass gerade die tieferen Flöten toll klingen. Viele der Field Recordings, die ich draußen mache, ähneln Flötenklängen. Die Kombination aus Metall und Luft reizt mich einfach. Flötist:innen können ja auch nochmal ganz anders mit Luft spielen als die meisten Holzbläser:innen, deren Mundstücke eher eng und geschlossen sind. Und bei der Flöte gibt es auch zahllose harmonische Klangmöglichkeiten – man kann akkordähnliche Gebilde erzeugen. Vermutlich lande ich deshalb immer wieder bei den tiefen Flöten.“

Bei einem Blick in Ann Cleares Werkkatalog fällt auf, dass sie vergleichsweise selten für Elektronik schreibt. Das rein Instrumentale ist deutlich stärker vertreten; und das, obwohl sie in ihrer kompositorischen Arbeit immer wieder auf das Bild von Elektrizität und Elektromagnetismus zurückkommt.

„Ich schreibe jedes Jahr vielleicht ein Stück mit Elektronik oder Verstärkung. Aber sonst komponiere ich viel Instrumentalmusik. Und doch spielt das Elektronische dabei eine Rolle. Denn meistens mache ich ja Field Recordings im Vorfeld, die ich dann analysiere und instrumentiere. Man könnte also sagen, dass ich bis zu einem gewissen Punkt mit den Techniken der ‚musique concrète‘ arbeite. Natürlich hört man das dem Endergebnis nicht unbedingt an; wobei ich denke, dass Komponist:innen, die ähnlich arbeiten wie ich, meinen Stücken vielleicht schon anhören können, dass sie auf Transkriptionen nicht-instrumentaler Klänge basieren.“

Elektronik oder Elektrizität spielen also in der Vorarbeit für Ann Cleares Stücke öfter eine Rolle als in der Musik selbst. Und doch sind die Klangwelten meist so eigentümlich, dass man hin und wieder vermuten mag, es seien Tonbandspuren oder elektronische Klangerzeuger im Spiel. Und genau hier liegt die Stärke der Komponistin: mit diesen jahrhundertealten akustischen Instrumenten eine Musik zu erfinden, die so vielfarbig schillert, dass oft nicht mehr erkennbar ist, welcher Klang hier wie entsteht. Das stellt Ann Cleare auch immer wieder selbst fest:

„Wenn Freunde oder Familienmitglieder zu meinen Konzerten kommen – Menschen, die vielleicht nur selten in Konzerte mit Neuer Musik gehen – dann denken sie manchmal, es wäre alles elektronische Musik. Sie können einfach nicht glauben, dass man aus akustischen Instrumenten solche sonderbaren Klänge herausbekommt. Oder sie hören Musik von mir im Radio und können nicht sehen, wie sie erzeugt wird. Da habe ich schon öfter von ihnen gehört: ‚Das hast du doch alles mit deinem Computer gemacht!‘ Und dann sage ich: ‚Nein, was da klingt, ist kein Computer! Es sind einfach zehn Instrumente, die zusammen spielen.’“

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Überarbeitetes Manuskript einer Rundfunksendung in hr2-kultur vom 26. Januar 2023

https://annclearecomposer.com

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Ann Cleare. Foto (c) Mark Duggan / Justin Hoke