Der Finder von Musik

Nachruf

Zum Tod des Komponisten und Musikautors Tom Johnson

In den 1980er Jahren reisten Gisela Gronemeyer und Reinhard Oehlschlägel wiederholt in die USA, vor allem nach New York, wo sie in der Szene der neuen Musik gute und langjährige Freunde fanden. Zu diesen gehörte auch Tom Johnson: 1939 in Greeley (Colorado) als Sohn einer Lehrerin und eines Lehrers geboren, am Yale College in New Haven (Connecticut) bei Elliott Carter eher akademisch ausgebildet sowie schließlich 1965/66 auch Privatschüler von Morton Feldman in New York. Hier schrieb der Komponist und Autor zwischen 1972 und 1982 wöchentlich Musikkritiken für das Magazin „Village Voice“, vor allem über die damals aufkommende Minimal Music. Eine Auswahl an Artikeln erschien später in der Edition „The Voice of New Music“ (Eindhoven 1989) und steht inzwischen im Internet zu freiem Download zur Verfügung. Eben dieses Independent-Szenemagazin aus Greenwich Village/Lower Manhattan war ein wichtiges Vorbild für die von Gronemeyer und Oehlschlägel 1983 neu gegründete Zeitschrift MusikTexte. Und Tom Johnson war dieser verlagsunabhängigen Zeitschrift für neue Musik als Informant, Netzwerker und Autor von der ersten bis zur letzten Stunde verbunden, anfangs als etwas nerdiger College-Typ mit langen Haaren, Rollkragenpulli und Hornbrille, später als älterer distinguierter, freundlicher Herr, mit Jackett und Krawatte stets korrekt gekleidet. Für seine Präsenz in Köln sorgte auch die Kölner Gesellschaft für Neue Musik mit Workshops und Gastvorträgen. Anlässlich seines 80. Geburtstags 2019 widmeten ihm die MusikTexte ein von Raoul Mörchen moderiertes Konzert im Kölner LOFT, bei dem auch Johnsons neuer Schriftenband „Finding Music“ vorgestellt wurde.

Der Autor

Johnson schrieb in den MusikTexten über Steve Reich, John Cage, David Tudor, Robert Ashley und die hierzulande damals völlig unbekannten und auch bis heute nicht weiter bekannt gewordenen Komponisten Jim Burton und Jackson Mac Low. Seit 1983 lebte er allerdings in Paris, wohin seine Frau Esther Ferrer schon 1973 gezogen war. Für die und gemeinsam mit der 1937 im spanischen San Sebastián geborene Bildhauerin, Performance- und Installationskünstlerin entwickelte er Performancestücke. Der Autor Johnson war fortan immer darauf bedacht, auch und vor allem als Komponist zu Wort zu kommen. In Heft 14 (April 1986) stellte er die Prinzipien einiger seiner „Rational Melodies“ (1982) vor.  In Heft 25 erhielt er bereits einen eigenen kleinen Schwerpunkt mit mehreren Beiträgen von und über ihn, darunter der wohl erste deutschsprachige Porträttext „Lust am Zählen“ von Gisela Gronemeyer. Sie war es schließlich, die 2019 in der Edition MusikTexte Johnsons über fünfhundert Seiten schweren englisch-deutschen Band „Finding Music: Writings – Schriften 1961–2018“ herausbrachte und dem Komponisten durch beharrliches Zureden abtrotzte, dass darin auch einige seiner musikjournalistischen Beiträge aufgenommen wurden.

Mit dem im Dezember 1992 erschienenen Doppelheft 46/47 – ein vielstimmiges Memorial für den soeben verstorbenen John Cage – wurde im Impressum der Zeitschrift erstmals ein Redaktionsbeirat genannt, bestehend aus dreizehn über die Welt verteilten Personen, darunter Johnson in Paris. Er schrieb über seine „Pflastertechnik“ (Heft 122) und den „Minimalismus in Europa“ (Heft 135). Als „alter Konzeptualist“ ließ er sich auch auf die Umfrage zum Neuen Konzeptualismus der 2010er Jahre ein (Heft 145), woraus sich ein E-Mail-Wechsel mit Peter Ablinger entspann (Heft 162). Gedenkblätter lieferte Johnson zum Tod von Morton Feldman, David Tudor, James Tenney, Reinhard Oehlschlägel, Frederic Rzewski und schließlich auch Gisela Gronemeyer. Eine Besonderheit sind seine „Puzzle Pages“, die in unregelmäßiger Folge in den MusikTexten erschienen. Die Rätsel fragten beispielsweise nach eingebauten Fehlern in logisch fortgesetzten Tonfolgen oder stellten die logisch beste Fortführung von Tonfolgen, Akkorden oder Rhythmen nach der Multiple Choice-Methode zur Disposition. Was oberflächlich Spiel, Kniffel- und Knobelspaß zu sein scheint, führt indes ins Zentrum des musikalischen Denkens von Tom Johnson.

tom-johnson-puzzle-page
Tom Johnson: PUZZLE PAGE

„Rational Melodies“

Nach kompositorischen Anfängen in der Feldman-Nachfolge mit teils extremen Reduktionen der musikalischen Mittel entwickelte Johnson zunächst szenisch-performative Konzeptstücke. In „Failing“ (1975) muss ein Kontrabassist zeitgleich zu einer schwierigen Instrumentalpartie einen Text verlesen, der in der Ich-Perspektive beschreibt, wie schwierig es sei, gleichzeitig zu spielen und zu sprechen, so dass zwangsläufig Fehler entstünden, die insofern aber richtig seien, als es sich ja um ein Stück über das Versagen handele, bei dem es falsch wäre, tatsächlich alles richtig zu spielen. In der Serie „Risks for Unrehearsed Performers“ (1977–1979) sollen Musiker:innen so gut es geht prima vista bestimmte Aufgaben bewältigen. Johnsons kombinatorischer, permutatorischer und rein musikbezogener Ansatz zeigt sich dann erstmalig deutlich in der „Four Note Opera“ für fünf Solostimmen und Klavier (1972). Das Tonmaterial der einstündigen Kammeroper besteht aus nur vier Tonhöhen in allen möglichen Reihenfolgen und Rhythmisierungen von der Ein- bis zur Vierstimmigkeit. Das Resultat ist zweifellos Minimal Music, unterscheidet sich aber deutlich von den Spielarten eines Philip Glass, Steve Reich, Terry Riley oder La Monte Young. Die Vokaltexte benennen dabei lediglich, was die Singenden tun: Der Tenor beklagt, nicht das hohe c singen zu dürfen; der Bass tritt bloß auf, um zu verkünden, dass er gleich wieder abtreten wird etc.

Ab Ende der 1970er Jahre komponierte der praktizierende gläubige Protestant – von leicht singbaren tonalen Chorälen und Anthems für Kirchengemeinden sowie dem abendfüllenden Oratorium „Bonhoeffer“ (1988–92) abgesehen – fast nur noch Musik auf der Grundlage verschiedener mathematischer Modelle und Zahlenreihen. Ausgangspunkte sind logische Progresse, prozessuale Automaten, additive oder subtraktive Reihen, symmetrische, retrograde oder isorhythmische Prinzipien, geometrische Rotationen, Papierfaltformeln oder das Pascalsche Dreieck. Die Anwendung all dieser Algorithmen auf Musik macht Johnsons Werk zu einer einzigartigen Fundgrube sowohl für musikinteressierte Mathematiker:innen als auch für mathematisch interessierte Musiker:innen. Wie Cage – doch mit ganz anderen Mitteln – erteilt seine Musik den traditionellen Kategorien Inspiration, Intuition, Gefühl und Ausdruck eine Absage. Auch Klangfarbe, Dynamik, Artikulation, Phrasierung spielen in seinen meist für Klavier geschriebenen Stücken keine oder nur eine sehr untergeordnete Rolle. Statt Musik zu erfinden, ging es dem Komponisten darum, Musik zu finden, die in diversen Zahlen- und Tonfolgen gleichsam schon existiert und durch einmal festgelegte determinierte Prozesse nur in jeweils genau einer einzigen bestimmten Weise erscheinen und enden kann. Daher der Leitgedanke seines Buchtitels „Finding Music“.

Eines seiner ersten streng rationalen Stücke ist „Nine Bells“ (1979). In der Form eines gleichseitigen Dreiecks hängen neun Feueralarmglocken von der Decke, die in neuen Abschnitten von jeder einzelnen Glocke ausgehend gemäß neun verschiedenen Kreisbewegungen angeschlagen werden. Zentral für Johnsons Schaffen sind die „Rational Melodies“ (1982), die (oder eine Auswahl davon) auf jedem Instrument, in jeder Oktavlage oder Transposition gespielt werden können, auch von Instrumentengruppen unisono oder abwechselnd. Diese 21 Melodien folgen jeweils anderen logischen Prinzipien, die eine große Begeisterung für Markow-Ketten, Fraktale und rekursive Prozesse erkennen lassen. Es gibt lineare Additionen und Subtraktionen von Noten, progredierende Vor- und Zurück-Mechanismen, Auf- und Abbauprozesse, verschiedene Abzähl- und Permutationsmuster, sich überlagernde Rhythmus- und Notenfolgen. In allen Fällen resultiert eine ganz bestimmte Anzahl an Konstellationen. Und wenn alle durchgespielt sind, ist das Stück zu Ende. Johnson interessierte sich nicht für die Ästhetik der Musik, sondern für die „Metaphysik der Musik“, für das „Wesen der Musik: Woher kommt sie, wie hat sie sich entwickelt, warum ist sie überhaupt da?“

tom-johnson-rational-melodies_0001
Tom Johnson: Rational Melodies

Vorhersehbarkeit

Rational sind auch die mit einer Notenschreibmaschine hergestellten „Symmetries“ (1979ff.), von denen Johnson einige in der späteren Sammlung „Self-Similar Melodies“ (1996) veröffentlichte. Mit dem Titel des Klaviertrios „Predictables“ (1984) – bei den Darmstädter Ferienkursen uraufgeführt – brachte er die Kernfrage, die sich vermutlich den meisten Hörenden seiner Musik stellt, exemplarisch auf den Punkt: Wird die Musik langweilig, weil sie vorhersehbar wird, wenn man ihre logische Fortsetzung irgendwann erkennt? Oder wird sie im Gegenteil spannender, weil die Hörenden „von der Schönheit dieser Muster selbst gefangen werden, wie man auch einen Sonnenuntergang immer wieder betrachten kann“? Eben daran scheiden sich die Geister. Manche finden Johnsons logische Stücke öde, sobald sie den Funktionsmechanismus verstanden haben. Andere winken ohnehin genervt ab, weil immer nur Töne klingen, die nichts anderes ausdrücken oder bedeuten als eben die Töne, die sie sind. Und wieder andere erleben diese streng logisch-mathematisch entfaltete Musik als ein voraussehbares Naturschauspiel in all seiner Eigengesetzlichkeit – als schön wie den täglich aufs Neue bestaunten Lauf der Sonne. Der gläubige Christ Johnson sah in der radikalen Immanenz seiner Zahlen- und Tonketten selbst etwas Transzendentes. Er erkannte Geheimnisse und Vieldeutigkeiten, wo andere bloß langweilige Eindeutigkeiten und Automatismen erblickten.

In „Counting“ für Sprechstimme (1982) lässt er verschiedene Zahlenfolgen von einer oder zwei Stimmen sprechen. Im Kommentar zu diesen Zahlenstücken äußert er sich begeistert über die Vieldeutigkeit einer scheinbar einfachen Zahlenreihe wie zum Beispiel: 1,3,2,4,3,5,4,6,5,7,6,8 usw., weil letztlich offenbleibt, wie diese Zahlenfolge zustande kommt: Zählen hier zwei Personen abwechselnd, die eine mit 1, die andere mit 3 beginnend? Oder folgt die Zahlenreihe der Formel +2,-1,+2,-1 usw.? Oder reihen sich hier die erste und zweite ungerade Zahl, dann die erste und zweite gerade Zahl, schließlich die zweite und dritte ungerade und die zweite und dritte gerade Zahl aneinander? Oder handelt es sich um Dreiergruppen von 1,3,2 und 4,3,5, zu denen man jeweils drei addiert, was 4,6,5 und 7,6,8 ergibt, zu denen man dann ihrerseits drei addiert usw.? Johnsons kleiner Werkkommentar gipfelt in einem Schlusssatz, der sein ebenso künstlerisches wie religiöses Bekenntnis als Komponist und als Mensch zusammenfasst: „Solche Muster scheinen völlig selbstverständlich, wenn wir sie hören, sehen oder denken, aber letztlich sind sie genauso schwer zu erklären wie Zufall oder die Sonatenform oder künstlerische Qualität oder Gott.“

tom-johnson-aus-symmetries
Tom Johnson aus SYMMETRIES

„Riemann“

Zu größerer Popularität gelangte Johnsons zweiaktige Oper „Riemann“ (1985–88). Nach der Uraufführung am Theater Bremen erlebte die gut eineinhalbstündige Kammeroper allein an deutschsprachigen Bühnen bis heute rund vierzig Neuinszenierungen. Das liegt sicherlich am humorvoll-leichten Ton sowie an der relativ einfachen Realisation und der schlanken Besetzung mit nur vier Vokalpartien von Primadonna assoluta, Primadonna, Tenor und Bariton sowie Klavier. Da Johnson das Bühnenwerk im Eigenverlag herausgab, verschafften ihm die bei allen Aufführungen anfallenden Tantiemen und Materialgebühren eine ordentliche Einnahmequelle. Grundlage der Oper ist eine Collage ausgewählter Artikel aus der 1087 Seiten umfassenden 12. neu bearbeiteten Auflage des „Sachteils“ (1967) des „Hugo Riemann Musik-Lexikons“, das erstmalig 1882 erschien und seitdem vielen Generationen von Musikwissenschaftsstudierenden zu einem ersten Wissensüberblick verhalf.

Die Singenden verkörpern hier keine Rollen, sondern singen, was die Artikel des „Riemann-Lexikons“ beschreiben. Wie einst Till Eulenspiegel und später Mauricio Kagel nimmt Tom Johnson einzelne Wörter und Redewendungen wörtlich: Der Artikel „Galopp“ wird zum Galopp, der Artikel „Rezitativ“ erscheint als Rezitativ, dito die Beiträge „Arioso“, „Leitmotiv“, „Nocturne“, „Bariton“, „Barcarole“ usw. In der „Da Capo-Arie“ artikuliert die Sängerin eine endlose Stakkato-Tonrepetition „da capo, da capo, da capo …“. Viele Nummern sind Stilkopien, die durch musikalische und szenische Fremdkörper dezent durchkreuzt und ironisiert werden. Der Text wird meist streng syllabisch, minimalistisch und repetitiv mit hoher Verständlichkeit umgesetzt, oft mit einfachen Intervallpendeln bzw. Alberti-Bässen, so dass sich die Silben gegen Rhythmus und Tonhöhe sprach- und sinnfremd verschieben. In „Tagelied“ beschränkt sich die Begleitung des Minnesangs der Sopransolistin auf die durchgängige Repetition von lediglich zwei Klaviertönen. Gleich zu Anfang der Partitur hat der Komponist verfügt, dass mit seinem Tod und dem seiner Frau „Riemann“ „unverzüglich und vollständig Gemeingut“ wird. Nun liegen die Rechte bei seiner Witwe. Am letzten Tag des Jahres 2024 ist Tom Johnson im Alter von 85 Jahren gestorben.

tom-johnson-foto-gisela-gronemeyer
Tom Johnson

Alle Abbildungen aus: Tom Johnson, „Finding Music: Writings – Schriften 1961–2018“ (Edition MusikTexte Bd. 017), hrsg. von Gisela Gronemeyer, Köln 2019.