Microtonal Streams
BerichtDas Festival klub katarakt 19 in Hamburg
Phill Niblock in memoriam – mit einem Hommage-Konzert eröffneten Jan Feddersen und Robert Engelbrecht den 19. klub katarakt. Niblock, der am 8. Januar 2023 verstarb, war mehrfach Gast des Festivals, 2006 als composer in residence und zuletzt 2019 anlässlich seines 85. Geburtstags.
klub katarakt 19, das diesjährige Festival für experimentelle Musik, fand vom 15. bis 18. Januar auf Kampnagel in Hamburg statt. Die ehemalige Maschinenfabrik, die seit 1982 als Veranstaltungsort genutzt wird, ist seit 2009 Spielort des Festivals. Ensemble in residence war in diesem Jahr das französische Ensemble Dedalus, das 1996 von Didier Aschour gegründet wurde. Am 16. Januar spielte es ein Auftragswerk von Alessandro Bosetti sowie Instrumentalversionen von Kompositionen von Brian Eno. Dazwischen trat Thomas Ankersmit mit seinem Serge Modular Synthesizer auf. Am Folgetag wurde dann die diesjährige composer in residence, Pascale Criton, vorgestellt. Im Anschluss an eine Präsentation ihres Werdegangs und ihrer Kompositionstechniken spielte das Ensemble Dedalus fünf Kompositionen, darunter ein neues Auftragswerk. Nach einem Solo-Programm am Klavier von Ju-Ping Song präsentierte Dedalus im Nachtkonzert „l’écoute virtuose“, mit Stücken von Catherine Lamb und Éliane Radigue. Die „Lange Nacht“ mit fünf neuen Kompositionen aus dem katarakt-Netzwerk, einer Party mit der mit der DJin Raspe aus Hamburg und einer Kooperation mit der Kurzfilm Agentur Hamburg rundete das Festival am 18. Januar ab.
Das Programm des Hommage-Konzerts für Phill Niblock las sich, als handelte es sich um das gesamte Festivalprogramm: zahlreiche experimentelle Filme, acht Musikstücke, drei Räume und insgesamt 20 Musiker:innen. Nur zwei Stunden dauerte aber das gesamte Wandelkonzert, in dem man durch die miteinander verbundenen Räume KMH, P1 und K4 wanderte. So konnte das Publikum unterschiedliche Klang- und Raumsituationen erfahren. Beim Eintritt war die Aufführung von „Guitar Too, For Four“ (Toral Version, 1996) für fünf E-Gitarren mit E-Bows in gleich drei Räumen im Gange. Gerade bei diesem ersten Stück entfaltete sich die räumliche Dimension besonders eindrucksvoll: Jeder der Räume verfügte über eine eigene akustische Gestalt, wodurch auch die Übergänge zwischen den Räumen zu interessanten Hörerlebnissen wurden.
Nach dem Ende der ersten Komposition begannen simultan drei verschiedene Werke, und diese Mehrgleisigkeit mit mindestens zwei parallel laufenden Aufführungen setzte sich bis zum Finale fort. Die Zuhörer:innen mussten sich damit abfinden, nicht alles miterleben zu können. Doch boten diese Konstellationen auch die Gelegenheit, die Breite von Niblocks kompositorischer Arbeit zu erfassen: Das Programm umfasste sowohl Werke für übliche Instrumente wie Gitarre, Violine, Cello und Klavier als auch Kompositionen für seltenere Instrumente – darunter „Hurdy Hurry“ für Drehleier (1999) und „Vlada BC“ für Viola d’amore (2013). Alle Kompositionen wurden von hervorragenden Musiker:innen interpretiert, von denen einige bereits mit Niblock zusammengearbeitet hatten. Die Qualität der Aufführungen zeigte sich besonders darin, dass die live gespielten Teile kaum von den voraufgenommenen zu unterscheiden waren – auch ein Verdienst der exzellenten Tontechnik.
Die experimentellen Filme, die einen großen Teil von Niblocks Œuvre ausmachen, wurden parallel zur Musik gezeigt. Die Ausschnitte aus „The Movement of People Working“ (ab 1973) zeigen repetitive Handarbeit in verschiedenen Gemeinden in Mexiko, Peru, Hongkong, Ungarn und Brasilien, mit langen Kameraeinstellungen auf arbeitende Hände und Körperbewegungen. „Streams“, einer der ersten Filme des Abends, dokumentiert die Bewegung von Wasserläufen. Die Verbindung von Musik und Film ist dabei besonders: Durch die repetitive Natur der gezeigten Situationen und den minimalistischen Schnitt verschmolzen die visuelle und die auditive Ebene der Veranstaltung zu einer Einheit. Die Filme dienten der Musik, die Musik diente den Filmen. Das Konzert endete, wie es begann: mit der auf alle drei Räume aufgeteilten Aufführung des 2013 im Auftrag des Festivals komponierten Werks „Three Petals“.

Foto: klub katarakt / Jann Wilken
Think and then sing the first four notes coming to mind.
Let me record them.
Let your memory and intuition be the tuning fork.
Do not make additional attempts.
Just four notes. Then stop.
Mit diesen Worten forderte der Komponist und Klangkünstler Alessandro Bosetti sieben Musiker:innen des Ensemble Dedalus individuell zum Singen auf. Aus den 28 aufgenommenen Tönen bildete er eine Skala als Grundlage für „Histoire sentimentale des intervalles“ (2024), das erste Stück des Donnerstagabends. Die Töne waren auch als Samples auf einem MIDI-Keyboard hörbar. In der Einleitung trug Amélie Berson – die Flötistin des Ensembles – das gesamte Tonmaterial einmal vor. Interessant war, dass darunter der gleiche Ton etwa viermal vorkam, aber immer leicht anders gespielt wurde. Beim Zuhören richtete sich die Aufmerksamkeit also nicht mehr auf den Gesang, sondern auf die differenzierten klanglichen Eigenschaften der Töne. Dem Komponisten gelang es, mit dem Schwellenbereich zwischen Bewusstem und Unbewusstem, Beabsichtigtem und Unbeabsichtigtem, Harmonischem und Unharmonischem zu spielen. Amélie Berson trug abwechselnd mit der Cellistin Deborah Walker Zwischenspiele bei, in denen gelegentlich modale Wendungen zu hören waren. Die unterschiedlichen Silben, die von den Musiker:innen gesungen wurden, brachten zusätzlich eine Abwechslung an Formanten, wie bei den Lauten [a] und [ø].
Mit „kräftig und körperlich“ kündigte Robert Engelbrecht die folgende Performance von Thomas Ankersmit an. Der elektronische Musiker spielte „manchmal strukturiert, manchmal nicht“ auf dem Serge Modular Synthesizer in Quadrofonie. Laut war es notwendigerweise, denn Thomas Ankersmit arbeitet gerne mit Infraschall und otoakustischen Emissionen, doch waren Ohrstöpsel nicht notwendig. So konnte man die ganze Bandbreite und die sehr musikalische Komprovisation ohne Probleme genießen. Der in seiner Performance sehr engagierte Musiker schien mit der gegebenen Akustik aktiv umzugehen, was die offene Form seiner Kunst erlaubte: Im Raum schwang der Ventilator bei einer sehr tiefen Frequenz mit. Anstatt dies als Störung wahrzunehmen und die Frequenz zu verändern, was bei einem so tiefen Register nicht unbedingt auffallen würde, ließ Ankersmit es zu. So entstand eine zusätzliche Klangquelle, die Teil seiner Performance wurde.
Das Ensemble Dedalus beendete den Abend mit einem zweiten Konzert mit Kompositionen von Brian Eno. Ambient Music instrumental aufzuführen, scheint auf den ersten Blick eine fast naheliegende Idee zu sein, ist aber aufgrund der langen Haltetöne und „freieren“ Rhythmen weitaus schwieriger, als zu vermuten wäre. Dem Ensemble Dedalus gelang es dank seiner Erfahrung mit dieser Art von Repertoire, „Thursday Afternoon“ (1985) und „Discreet Music“ (1975) mit großer Genauigkeit und Liebe zum Detail zu interpretieren. Besonders einprägsam waren die im ersten Stück von den Streichern gehaltenen Liegetöne auf der reinen Terz h (es handelt sich um eine Komposition in G-Mixolydisch), die mit der temperierten Terz des Keyboards und der Gitarre konfligierte und gelegentlich Schwebungen erzeugte.
Die Programmgestaltung des Abends zeigte eine durchdachte und sensible Balance. Die Performance von Thomas Ankersmit wechselte sich mit den eher langsamen und mikrotonalen Stücken von Alessandro Bosetti und Brian Eno ab. Das Langsame und Leise ermöglichte eine verstärkte Wahrnehmung des Kraftvollen und Geräuschhaften, was wiederum die Sensibilität für Ambient Music erhöhte.

Foto: klub katarakt / Jann Wilken
Am Freitag dann stellte Pascale Criton ihren Werdegang und ihre Ästhetik in einer Präsentation vor. Die ehemalige Schülerin von Gérard Grisey, Jean-Étienne Marie und Ivan Vyšnegradskij, dessen Schriften sie 2013 herausgab, zeigte Partituren, Grafiken, Klangbeispiele und Analysen ihrer eigenen Musik. Ihre Arbeit mit Mikrointervallen und alternativem Instrumentenbau manifestiert sich beispielsweise in „La ritournelle et le galop“ für 96-EDO-Gitarre (1996, Gilles Deleuze gewidmet): ein temperiertes Sechzehnteltonsystem, das Julián Carrillo bereits 1922 in seinem „Preludio a Colón“ verwendet hatte. Ihre Nähe über Jean-Étienne Marie vermittelte zu Carrillo Jean-Étienne Marie machte sie in ihrer Präsentation deutlich, zeigte aber auch ihre eigene Herangehensweise, indem sie die „differenzierten Stilen“ und offenen Werkformen erläuterte, die sie beispielsweise bei „Chaoscaccia“ für Cello (2014) verwendete. In „Streams“, dem Auftragswerk von klub katarakt, arbeitet Pascale Criton mit der Klangfarbe: Charakteristisch war die Aufteilung der fünf Musiker:innen von Dedalus in Gruppen, die sich durch verschiedene Spieltechniken definierten. Wie die Komponistin vor dem Konzert erklärte, hatte jede:r Musiker:in die gesamte Partitur, um sich an den anderen orientieren zu können.
Es folgte ein Solo Piano-Programm von Ju-Ping Song mit „piano and e-bows“ von Jan Feddersen (2011) sowie „Techno Etudes“ und „ echno Etudes II“ von Karen Tanaka (2000 und 2020). Im ersten Stück wurden drei E-Bows auf unterschiedliche Saiten gelegt, sodass bei leichtem Druck auf die entsprechenden Tasten ein sinusähnlicher Klang entstand. Mit wenig Material entfalteten sich reichhaltige Klänge und Akkorde. Bei den „Techno Etudes“ entschied sich die Pianistin dafür, elektronische Effekte hinzuzufügen. „Since there is techno in the title of the piece, I thought, why not add some tech?“ sagte die Pianistin bei der Vorstellung des Stüuckes. Der Einsatz von Detuning, Delays und Halleffekten mit den Pedalen VOCO-LOCO von Radial und Plethora X3 von TC Electronic war eine mutige interpretatorische Entscheidung, die Ju-Ping Song mit bemerkenswertem künstlerischem Gespür umsetzte. So zog sich der rote Faden der Mikrointervalle durch den ganzen Abend. Weniger passend erschien die Elektronik allerdings in „Lightly & Gently“, der zweiten Etüde in der zweiten Sammlung, die einen stark debussyesken Charakter besitzt und meines Erachtens eine rein pianistische Klangfarbe verlangt. Hier hätte ein akustischer und musikalischer Kontrast die Interpretation wirkungsvoller machen können.
Mit Sätzen aus Catherine Lambs „Overlays – Transparent/Opaque“ (2013) und mit „Occam Hepta I“ von Éliane Radigue (2017) endete der Abend. Zum letzten Mal auf diesem Festival stellte das Ensemble Dedalus seine klangliche Virtuosität unter Beweis. Catherine Lamb erklärte im Vorfeld, dass das Stück aus sieben Miniatursätzen besteht, die alle harmonisch miteinander verbunden sind. Sie könnten jedoch auch einzeln in beliebiger Reihenfolge aufgeführt werden. Jeder Satz enthält Akkordverbindungen und legt die harmonische Reflexion der Komponistin dar. Éliane Radigue, Pionierin der elektronischen Musik, arbeitet seit der Jahrtausendwende hauptsächlich mit akustischen Instrumenten. Im Rahmen ihres langjährigen Projekts „Occam Ocean“ erarbeitet sie Kompositionen individuell mit Musiker:innen durch mündliche Überlieferung. Das verlieh dieser sehr meditativen Aufführung des Stückes einen besonderen Stellenwert. Die von den einzelnen Musiker:innen erzeugten Klänge verschmolzen zu einem Klangspektrum, ohne ihre Individualität zu verlieren: feine, kaum wahrnehmbare Veränderungen einer scheinbar ewigen Klangeinheit.
Die 19. Ausgabe von klub katarakt überzeugte durch ihre hohe künstlerische Qualität. Besonders bemerkenswert war die Art, wie sich verschiedene Zugänge zu Mikrotonalität und Klangforschung das Festival durchzogen. Von Niblocks Drones über Critons Stimmungssysteme bis zu Radigues spektralen Klangflächen flossen mikrotonale Ströme durch die ehemalige Maschinenfabrik. Das Ensemble Dedalus erwies sich dabei als idealer Partner, der sowohl die technische Präzision als auch die nötige interpretatorische Sensibilität für dieses Repertoire mitbrachte.
Auch zwischen den Stücken gab es eine einladende Atmosphäre, die das Publikum dazu verleitete, sich Ankersmits Synthesizer oder auch Songs Pedale anzuschauen. Die nuancenreiche Programmgestaltung erzeugte eine besondere Spannung, die zu fokussiertem Hören einlud. Auch nach dem Applaus war auf Seiten des Publikums Begeisterung für das gelungene Festival wahrzunehmen.
