Vokale Magnetfelder

„Was noch.“ von Michael Reudenbach

Die Laute der menschlichen Stimme sind für die Musik seit jeher von essenzieller Bedeutung. In der Vokalmusik stammen vertonte Laute meist aus einer syntaktisch vollständigen Sprache. Erst im 20. Jahrhundert, insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg, gerät diese Ordnung ins Wanken. Einzelne Stimmlaute kommen in der Musik seitdem auch außerhalb einer sprachlichen Syntax vor, eine Folge künstlerischer Bewegungen, etwa des Dadaimus oder Lettrismus, der Lautdichtung oder der Musique concrète vocale.1 Komponistinnen und Komponisten verwendeten Stimmlaute aus verschiedenen Sprachen oder Wörtern, aus alltäglichen Situationen oder als eigenständige Klänge ohne ersichtlichen semantischen Zusammenhang.

Oft spielt dabei eine möglichst große Vielfalt eine Rolle. Als eine der ersten Kompositionen, die einzelne Stimmlaute verarbeitet, gilt Kurt Schwitters’ „Sonate in Urlauten“ aus den 1920er Jahren, die erfundene Buchstaben- und Silbenfolgen in einer klassischen Form unterbringt. Besonders in der Mitte des Jahrhunderts nahmen vokale Experimente zu. Über hundert verschiedene Laute kombiniert etwa György Ligeti in seinen Vokalkompositionen „Aventures“ und „Nouvelles Aventures“. Ebenfalls eine große Anzahl an Stimmlauten ist in Dieter Schnebels Werk von Belang, beispielsweise in „glossolalie“ für Sprecher und Instrumentalisten. Darin behandelt er „Sprache als Musik [...] und umgekehrt Musik als Sprache“.2 Darüber hinaus nahmen sich auch ­Institutionen und Ensembles der Aufgabe an, Sprache im musikalischen Kontext neu zu entdecken: Berios „Studio di Fonologia“, das Vokalensemble „Die Maulwerker“ oder das Trio „sprechbohrer“.3

Um einzelne Stimmlaute geht es auch Michael Reudenbach in seiner neuen Komposition „Was noch.“, die vom SWR-Vokalensemble in Stuttgart beim ECLAT-Festival 2024 uraufgeführt wurde. Doch reduziert sich deren materiale Essenz in frappanter Weise auf nur zwei Laute.

Die zwei Stimmlaute [a] und [ɔ]

Die einsilbigen Wörter „was“ und „noch“ aus dem Werktitel sind zugleich die Basis der gesamten Komposition. Ihre Bestandteile prägen die vokalen Klangfarben. Neben den beiden Silben, die nur einmal vollständig ausgesprochen werden, kommen alle möglichen Ableitungen vor.4 Aus dem „was“ ergeben sich die Laute [va], [v], [a] und [s]; analog aus „noch“ [nɔ], [n], [ɔ] und [ç]. Einzig das „ch“ wird abweichend nicht als Hintergaumenlaut [x], sondern als heller Vordergaumenlaut [ç] ausgesprochen. Jenes Lautmaterial bestimmt die Passagen mit festgeschriebenen Tonhöhen, die den größten Anteil der Komposition ausmachen. Hinzu treten nur die Konsonanten [k] (mit den anschließenden Vokalen [a] oder [ɔ]) und das [m], während in den wenigen Passagen mit beliebigen Tonhöhen auch andere Vokale beteiligt sind.

Die Phrase „Was noch.“ stammt aus „Felder“, dem ersten Prosaband von Jürgen Becker aus dem Jahr 1964. In 101 Textfeldern entfaltet er eine Topografie der Stadt Köln und ihrer Umgebung. Er schildert sein alltägliches Leben in den eigenen vier Wänden und auf der Straße, seine Erinnerungen, Erfahrungen und Empfindungen. Nach Heinrich Vormweg sei in „Felder“ zu erleben, „was existent, doch zuvor unfaßlich war im Ausgesetztsein des Erwachens, in der Konfrontation mit dem undurchschaut Gewohnten und seinen Geräuschen und Farben, im ziellosen Warten, im Nichtwissen, wohin und was tun, im Getriebensein.“5 Diese Unbeständigkeit spiegelt sich in der Gestalt des Textes wider: Jedes Feld unterliegt einer anderen sprachlichen Herangehensweise. Becker versuchte zu dieser Zeit neue Dimensionen zu erkunden, „Literatur neu zu formulieren“, was Jahrzehnte später „wie eine Mode von vorgestern“ wirkte.6 Infolgedessen zeichnet sich seine Sprache auch durch musikalische Eigenschaften aus. Das Lesen ist geprägt von alternierenden Rhythmen, unterschiedlich langen Sätzen, variabel gestalteten Phrasen, mehreren Arten von Übergängen, Wiederholungen und Auflistungen, ungleichen Abständen zwischen den Wörtern, Leerstellen und Pausen.

Reudenbach wählt drei teilweise gekürzte Textfelder für seine Komposition aus. Im Feld 35, einem längeren Text in collageartiger Form, beschreibt Becker allerhand Bewegungen; so das Schieben und Trippeln und Stehen von etwa Schaffnern, feuchten Pagen, Zimmermädchen in Fenstern, Packern im Hof oder Kolonnen, Klassen, Prozessionen oder Schritten, Schuhen (35).7 Unterdessen stellt er sich mehrere, auf diese Vorgänge bezogene Fragen, unter anderem wie weiter, was sprechen, wie fortsetzen (35). Andere Aussagen scheinen die musikalische Anlage der Komposition vorwegzunehmen: Es ist etwa von einer Stimmenverteilung und einer Bewegung zwischen Momenten, Pausen, Vorgängen, Flächen die Rede (35). Diesem Text gegenübergestellt ist das kurze Feld 7, das ausschließlich Verben im Partizip Präsens auflistet. Das dritte Feld, das in „Was noch.“ auftritt, ist das Feld 25. Es birgt überhaupt keinen Text und eignet sich als Pause hervorragend für den musikalischen Gebrauch.

Nicht nur die Texte selbst werden zu Musik. Mit den Feldern Beckers komponiert Reudenbach seine eigenen, indem er die formale Strategie aneinandergereihter Felder übernimmt. Dadurch ergeben sich „87 Stationen innerhalb von fünf Text-/Musik-Feldern“.8 Jene Stationen sind sogar visuell präsent, beim Hinsehn aber zerfällt in Momente das Ganze (100). Die Sängerinnen und Sänger halten je einen Kartenstapel und lesen ihre Stimmen von der obersten Karte ab. Nach einer Station blättern sie auf ausdrücklich geräuschhafte Weise zur nächsten Station weiter. Die verstreichende Zeit wird hörbar und sichtbar inszeniert. Ein zweites szenisches Element ist die Aufstellung vom schwarzen Chor (29), dessen Stimmen, Kopfstimmen, Ohrenstimmen, Augenstimmen (9) mit je sechs Sopran-, Alt-, Tenor- und Bassstimmen solistisch besetzt sind. Die Sängerinnen und Sänger stehen in vier Reihen und sechs Spalten mit jeweils zwei Metern Abstand zur nächsten Person. Ansonsten ist die Bühne leer, sodass sich das Publikum vollständig auf die Formation konzentrieren kann.

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Abbildung 1: Die Aufstellung des Vokalensembles in „Was noch.“

Zu Beginn blickt das gesamte Ensemble frontal in Richtung Publikum, wie es in einem traditionellen Chorkonzert üblich ist. dasitzen und auf Stimmen hören, die nicht draußen sind (100). Ab der elften Station offenbart sich der Sinn der Aufstellung: Wie in einem stets anders ausgerichteten Magnetfeld vollziehen die Sängerinnen und Sänger regelmäßige Vierteldrehungen um die eigene Achse, entweder simultan in einer Gruppe oder zu einem individuellen Zeitpunkt. Zum Ritual des Blätterns, welches das Ende einer Station markiert, kommen Positionsänderungen hinzu. Durch die unterschiedlichen Abstrahlrichtungen des Gesangs, alle mal herhören (100), wird das Vokalensemble im Raum akustisch auf eine immer neue Art und Weise erfahren.

Feld I: Gewöhnliches Sprechen

Wie bereits angedeutet, prägen die Wörter Was noch. mit ihrer Klangfarbe das gesamte Stück. Doch das wird einem erst nach einiger Zeit bewusst, daher schön der Reihe nach aufzählen, was nun passiert (100). Es beginnt mit dem gesprochenen Wort kauend aus Beckers siebtem Feld, das vertraute Beschäftigungen auflistet.

Feld 7: kauend rumschlurfend fensterschließend runterschluckend [...] tasseschwenkend kleinkasseprüfend kopfkratzend kaffeeschlürfend lagebedenkend reinbeißend [...] kauend knirschend sabbernd rülpsend augenrollend hustend hustend immernochhoffend imzimmernochhockend rumbummelnd stiftespitzend seufzend zuwünschend niekriegend rumkriegend kauend kribbelnd schnipfelnd schluckend [...] schlagerbabbelnd schlipsbindend [...] nimmerrostend niemalsrastend mitmachend mutmachend miesmachend neinsagend

Den zwei übernommenen Feldern, die Wörter enthalten, sind zwei unterschiedliche Sprecharten zugeteilt: gewöhnliches Sprechen und roboterhaftes Sprechen. aber laßt sprechen einen jeden und ihr werdet wissen wieder nichts (22). Das Sprechen wird von gesungenen Vokalen begleitet, entweder mit unbestimmter oder bestimmter Tonhöhe, und von leise gesummten oder kurzen, geräuschhaft artikulierten Konsonanten.

Die Partizipien aus Feld 7 spricht jeweils eine Stimme. Sie wird stets von einer Wortlautstimme akustisch umhüllt, welche die jeweilige Station auf einer frei gewählten Tonhöhe mit den Vokal- oder Konsonantfarben der Wörter grundiert. während der allgemeinen Geräuschvermischung (10) entsteht eine enge Bindung zwischen Sprache und Gesang. Nachdem die Kartenstapel vom Vokalensemble zur Hand genommen wurden, wird das erste Partizip kauend der Sprechstimme Alt 2 zur Klangfolge [a–​ʊ​–n] der Wortlautstimme Sopran 2. das Auflösen einer Einzelheit in bewegliche Partikel ist die Erfahrung an einem allgemeinen Vormittag (100). Diese einprägsame Situation kehrt außerdem noch zweimal wieder und gliedert damit die Form. Obendrein wird kauend immer alleine und in der gleichen Besetzung vorgetragen, sodass es leicht wiedererkannt wird (Abb. 2). Bei Becker wird ebenfalls mehrmals gekaut: Neben dem Kauen in der Küche (6) steht an anderer Stelle kauend noch kalt noch trüb noch kauend und ungewiß kauend im aufrechten Morgen kauend im Kalten noch im trüben (2).

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Abbildung 2: Beginn von „Was noch.“ mit dem gesprochenen kauend

Viele dieser Partizipien hätten als Vortragsbezeichnungen dienen können: kauend, kratzend, schlürfend, knirschend, rülpsend, schluckend.9 Doch werden sie ausschließlich in einem neutralen Ton gelesen, es geht damit um die Stimmlaute der einzelnen Wörter. Jede weitere klangliche Vorstellung, die der Wortbedeutung entspringen könnte, wird dem Publikum überlassen. da war viel drin in meinem Kopf. (26) Bis zu sechs Duos aus einer Sprech- und Wortlautstimme agieren gleichzeitig. In der Station 35 überschneiden sich während eines zufälligen sechsstimmigen Akkords etwa die Partizipien hustend hustend immernochhoffend imzimmernochhockend rumbummelnd stiftespitzend (7).

Feld II: Roboterhaftes Sprechen

Der Text aus Feld 35 wird ebenfalls gesprochen, aber auf eine roboterhafte Art. Er beginnt in der Station 15 und ist genau ausnotiert: Im Tempo 60 tragen die sich abwechselnden Stimmen Bass 1, 3 und 6 den Text silbenweise vor. Einzelne Wörter werden sogar durch längere Pausen unterbrochen und von einer anderen Stimme weitergeführt. oft mittendrin stehenbleiben und fragen was ist (100). Die beschriebene Unsicherheit des Anfangens, Fortsetzens oder Beendens einer Bewegung wird von der stockenden Sprache musikalisch verwirklicht, und jeder Fortsatz geht ins Offene und hält sich offen. (100) Die zentrale Phrase Was noch. spricht der Bass 6 in der Station 51 – kurz vor dem Goldenen Schnitt des Stücks (Abb. 3).

Feld 35: wie weiter, was sprechen, wie fortsetzen was und eine Gelegenheit, hier, setzen als Punkt und wohin im Vielleicht oder schrägen Vorbei von was einem Ding da ist keins aber waren ja Dinge da im damals [...]; rufen hier hin als Stimmen aus dem Schieben und Trippeln und Stehen [...]; fortsetzen was und beenden eine Bewegung oder anfangen, beschleunigen, unterbrechen im Mittendrin der Anfänge, Beschleunigungen, Unterbrechungen einer Bewegung fort von einem alten Ort, [...], springend, zögernd, [...] lustig verstört, los, fußfassend auf verwaltetem Weg, in beschreibbarer Richtung, heute, nein, nicht in bestimmbarer Entfernung [...] zurück ins Erinnern, zurück ins Erinnern einer Gelegenheit, eines Punktes, einer Stimmenverteilung, einer Bewegung zwischen Momenten, Pausen, Vorgängen, Flächen; was weiter; was rollte davon und floß vorbei und riß ab aber Reste davon und Gerinnsel und Risse zusammen gescharrt unterm Strich ja das blieb. [...] Was noch. [...] im dauernden Scharren und Kreisen rund und quer [...] unterbrechen; [...] zögern; [...] umsonst; [...] Gänge quer längs lang während. [...] die Gelegenheiten schwinden, wieder, weiter, wie fortsetzen was, [...] hier, der Punkt ist überall [...] was sprechen, die zusammenstoßenden Punkte, die ungesammelten Schritte, [...] das nicht, [...]

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Abbildung 3: Partitur mit dem gesprochenen Was noch. in der Station 51

Zu dem roboterhaften Textvortrag stoßen die gesungenen Vokale [a] und [ɔ], die von Was noch. abgeleitet sind. Jene alleinstehenden Vokale sind schon bei Jürgen Becker anzutreffen, umgeben von Leerstellen und Punkten: aberdannaberdannunddannvorallemaber . . . . . . . . . . . . . . . . . a . . . . . . . . . . . . . . . . . . o . . . . . . . . . . unddanndrauflos (14). Fast immer unterstützen Konsonanten die gesungenen Vokale. Zu einem [a] treten zu Beginn [ka] und am Ende [s] hinzu, zu [ɔ] ein [kɔ] und [ç]. Im Hintergrund agieren die gesummten Konsonanten [v], [n] und [m]. Zehn Stationen mit gesungenen Vokalen verlaufen zunächst ohne roboterhafte Sprache. Die Laute [a] und [ɔ] wechseln sich von Station zu Station ab und erklingen in drei- bis fünfstimmigen leisen Akkorden.10 Deren Harmonien folgen einer großflächig angelegten Form. Von der Station 2 bis 27 wird eine Folge von 19 Akkorden exponiert, die – Noch einmal das Ganze von vorn. (92) – ab der Station 30 bis 56 (ohne den ersten Akkord) wiederholt wird. Ab der Station 57 erscheinen die ersten drei Akkorde sogar ein drittes Mal. Zwischen den Akkorden finden durch Positionsänderung und Kartenwechsel jeweils Pausen statt. Zusätzlich werden Einschnitte gebildet durch Sprachfelder, absteigende Linien oder einen vollstimmigen Akkord. Unterbrechungen als Fortsätze wortlos (62). Diese Schnitte befinden sich immer an anderen Stellen, sodass die Akkordfolge nicht wörtlich wiederholt wird.

Hinter den Akkorden verlaufen drei horizontale Strukturen (Abb. 4). Die p gesungenen Töne wiederholen sich entweder in der nächsten Station oder erklingen nur einmal. Weitere Töne im ppp gestalten einen zusätzlichen Hintergrund. Die wiederholten p-Töne ergeben eine aufsteigende chromatische Tonleiter, gelegentlich oktavversetzt, von a bis fis. Diese Folge wird kurz vor der Wiederholung von einem as und e gebrochen. Die nicht wiederholten Töne bilden eine Sequenz aus Intervallsprüngen, ein automatischer Vorgang (38). Deren Glieder bestehen aus einem fallenden Tritonus, der anschließend um eine kleine Sekunde aufwärts gerückt wird. Jedes dritte Glied lässt den zweiten Ton aus. Hinter den ppp-Tönen steckt eine vollständige chromatische Tonleiter ohne Unterbrechungen.

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Abbildung 4: Drei horizontale Strukturen zur Begleitung des roboterhaften Sprechens

Feld III: Absteigende Linien

Nach neun Stationen von leisem Gesang und solistischem Sprachvortrag ereignet sich ein markanter Einschnitt. booiiing oder wie sagt man jetzt im tonstillen Schreck ja so (19). Abwärts gerichtete Linien setzen mit einer hohen dynamischen Intensität im ff ein und überlagern sich währenddessen zu chromatischen Clustern. Die Sopranstimmen beginnen auf dem höchsten Ton des Stücks g2 und sinken tendenziell schrittweise hinab zum cis2. Ich höre nicht auf zu fallen; es ist mehr ein Sinken, ein Versinken im Wasser des Sees (100). Isolierte Töne stehen zwischen kurzen Pausen. Oft wird allgemein schwer Atem geholt. (85) Dieser Weg wird fortgeführt in den Stationen 22 (Sopran und Alt), 40 (Alt und Tenor) und 50 (Tenor und Bass), bis der Bass in der Station 54 das H erreicht. Später ergänzen die Stationen 76 und 80 das Bild, in denen sogar bis zu drei Stimmgruppen (Tenor, Alt und Sopran) beteiligt sind. Sie fangen wiederum im oberen Register an, fügen teilweise zwei fallende Perioden zusammen und schließen auf der Oktave e1-e2. da blieb es plötzlich stehen verstummte (26). Auch diese absteigenden Linien sind jeweils auf Was noch. ausgerichtet. Die insgesamt sieben Stationen wechseln zwischen den Lauten [va] und [nɔ] hin und her.

Rhythmisch sind die Stimmen gegeneinander versetzt, sodass die akzentuierten Laute in einem unregelmäßigen Abstand die Klangfläche gliedern. Die Unregelmäßigkeit wird erzeugt durch gleich lange Töne in einer Stimme. Ereignisse, die das Repertoire des Übersichtlichen durcheinanderbringen, Eingriffe. (81) Beispielsweise halten die Sopranstimmen ihre Töne im ersten Cluster unterschiedlich lang aus: der Sopran 3 für vier Schläge, S4 für 5 1/3, S5 für 6 und S6 für 7 3/5.

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Abbildung 5: Partiturausschnitt mit absteigenden Linien in der Station 10

Feld IV: Achtstimmiger Akkord

Bereits in dem das Sprechen untermalenden Gesang und den absteigenden Linien bestimmen die Vokale [a] und [ɔ] den klangfarblichen Grund. Doch die Wörter Was noch. kommen insbesondere in einem mehrfach wiederholten Tutti-Akkord zum Tragen, der ab der Stückmitte einsetzt (Station 46). wenn etwas passiert verschlägt es einem erst einmal die Sprache (100). Dieser Akkord offenbart sich als Ziel der vorangegangenen Entwicklungen. Die Anfangslaute von Was noch. treten erstmals dicht zusammen. Sie nähern sich den zwei vollständigen Wörtern an, erreichen diese aber nicht. Zudem ereignen sich hier dynamische Veränderungen: In dem Akkord artikulieren mehrere Stimmen ein [va] im Sforzato und blenden den Vokal anschließend aus. Gleichzeitig crescendieren andere Stimmen in den meisten Fällen ein [nɔ] zu einem Sforzato hin. Auch Becker wiederholt die Wörter: Noch unterwegs sein. Noch zögern. [...] Noch sprechen. Noch Namen nennen und Anwesende rufen. Noch anwesend sein. [...] Noch radeln auf Wegen im Wald. Noch sitzen heimlich auf dem Hochstand. Noch liegen in den heißen Wiesen. [...] Was noch. (92)

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Abbildung 6: Partiturausschnitt mit den Altstimmen des achtstimmigen Akkords in der Station 46

Gerade bei dem vollstimmigen Akkord ist das akustische Potenzial der drehbaren Aufstellung zu erleben. Durch die stetigen Permutationen erklingt der gleiche Akkord immer auf eine andere Weise. Zu Beginn schauen sich die Sängerinnen und Sänger der linken und der rechten Hälfte des Vokalensembles an. Nach einer Drehung richtet sich eine Hälfte mit dem Rücken und die andere frontal zum Publikum. Dann wenden sich die Sängerinnen und Sänger auf der linken und der rechten Seite voneinander ab und blicken in entgegengesetzte Richtungen. Ab der Hälfte aller wiederholten Akkorde bestimmen einheitliche Positionen die Stationen 65 und 67. Hier dreht sich das Ensemble um 90 Grad und singt entweder mit Blick nach vorn, nach links oder nach rechts. In der letzten Akkordstation 83 wenden sich die Sängerinnen und Sänger wiederum in zwei Richtungen. warum läufst du immer im Kreis rum? (96)

Die [va]- und [nɔ]-Laute sind in einem achtstimmigen Klang eingebettet. Eine Konstante ist der übermäßige Akkord g-h-dis1, zu dem als vierter Ton entweder ein a1 oder b1 hinzukommt, einmal auch beide Töne zusammen. Die Laute erscheinen in unterschiedlichen Intervallkombinationen: beim ersten Mal etwa [va] im Tritonus dis1-a1 und [nɔ] in der Terz g-h. die Gleichzeitigkeit verschiedener Vorgänge ist wahrnehmbar, aber nicht darstellbar. (100) Um diesen Akkord herum färbt ein zweiter Akkord im ppp den Hintergrund. Zu c-fis-d2 tritt das jeweils nicht akzentuierte a1 oder b1. Der achtstimmige Akkord setzt sich aus zwei übereinander geschichteten vierstimmigen Akkorden zusammen, bestehend aus Tritonus, kleiner Sekunde und großer Terz. Der Akkord ist also jedes Mal gleich, klingt durch die unterschiedliche Stimmenverteilung und Anordnung im Raum aber ganz anders (79).

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Abbildung 7: Aufbau des achtstimmigen Akkords, Sforzati in den Stationen 46–83 (ausgefüllter Notenkopf: sforzato – decrescendo, leerer Notenkopf: crescendo – sforzato)

Auf diesen wiederholten Akkord zielt das gesamte Stück hin, unter anderem durch die gesungenen Vokale [a] und [ɔ]. Eine weitere Vorbereitung sind sehr leise Akkorde, die „an der Hörbarkeitsgrenze“ ausgeführt und auf [m] gesummt werden (siehe oben Abb. 3). In den Stationen 24 und 52 erklingt der Akkord cis-g-es1-fis1-d2, dessen Tonvorrat bereits nahe an den achtstimmigen Akkord heranrückt. Die fünfstimmige Struktur ähnelt allerdings auch der akkordischen Begleitung des roboterhaften Sprechens. Der fast unhörbare Akkord lässt sich daher nicht eindeutig zuordnen und steht „zwischen“ den Feldern. Nur der Bass 2 pausiert und bringt den Akkord nach sieben Schlägen mit einem sffz artikulierten [s] zum Schweigen. ein unerwartetes Geräusch und das in dem Augenblick in dem es drauf ankommt. (56) Als einzige Stationen werden sie in der ungewöhnlichsten Ausrichtung gesungen – mit dem Rücken zum Publikum. Nun blicken wir in den Hintergrund. (9)

Feld V: Was machen wir dann: Pause. (47)

Die Verarbeitung des klanglichen Materials der Wörter Was noch. steht zweifellos im Vordergrund des kompositorischen Prozesses. Doch das eigentlich wichtigste Feld hinsichtlich der Verbindung von Text und Musik ist „diese konkrete ästhetische Leerstelle, die den Riss im Erinnern darstellt“, wie Norbert Hummelt über Beckers leeres Feld schreibt.11 viel nichts. nichts drin. viel weg. (26)

Feld 25:

Eine Pause von 23 Sekunden steht bereits am Anfang von „Was noch.“. In ihrer definierten Länge ist sie allerdings nicht wahrnehmbar, weil das Ensemble von einem Clicktrack geleitet wird. Anfang und Ende nie genau kenntlich denn meistens hat es schon angefangen (62). Die erste nachvollziehbare Aktion ist das Zur-Hand-Nehmen des Kartenstapels. Danach unterbrechen Pausen immer wieder die einzelnen Stationen, doch bestimmen Sprache und Gesang das Geschehen. Erst wenn das Ensemble zwischen den Umblätteraktionen schweigt, wird die Aufmerksamkeit direkt auf die Stille gelenkt, die Stille, die auf ein Erinnern folgt oder es einführt (100). Zum ersten Mal passiert dies in der Station 59 mit einer Länge von sieben Sekunden. Von dem Zeitpunkt an wird die Pause als eigenständiges Ereignis zunehmend wichtiger und in der Dauer jeweils länger. Nach zwei elf Sekunden langen Pausen folgt ab Station 70 ein Block mit sechs Pausen von 13 Sekunden Länge. Zweimal erklingen noch die absteigenden Linien und einmal die wiederholten achtstimmigen Akkorde. Am Ende schließt „Was noch.“ mit vier Pausen von 17 Sekunden Länge. da war es nicht zu Ende da gab es kein Ende (26). Dort überschneiden sich Text und Musik vollständig. Ob in der Sprache das Schweigen oder in der Musik die Stille – klanglich ist das kein Unterschied.

Spielt Zeit überhaupt eine Rolle dabei? (38) Bei den Pausen wird eine weitere kompositorische Dimension ersichtlich. Ihre Dauern sind nach Primzahlverhältnissen angelegt.12 alles geregelt bis ans Ende (100). Die erste Pause ist sieben Sekunden lang, danach folgen solche von 11, 13 und 17 Sekunden, wobei zwischendurch auch Pausen von 14 und 15 Sekunden als Unregelmäßigkeit eingefügt sind. Ohne Ausnahme aber auch keine Regel. (71) Dieser Strategie folgt das gesamte Stück. Die meisten Stationen weisen die Dauer einer Primzahl auf, wobei jene Regel gelegentlich gebrochen wird. So sind etwa die ersten beiden absteigenden Clusterflächen 49 Sekunden lang und die zwei vorletzten Akkordwiederholungen dauern 51 Sekunden. Die gereihten Stationen orientieren sich größtenteils an einer Ordnung, die von Menschen als Unordnung wahrgenommen wird.13 Dann komm zu einem Ende. (51)

die Geschichte so zu Ende bringen daß sie kein Ende hat (51)

Das kompositorische Potenzial des Sprachklangs von Was noch. ist Michael Reudenbachs hauptsächlicher Beweggrund für sein 36-minütiges Werk. Die enthaltenen Vokale und Konsonanten kommen in verschiedenen Sprech- und Gesangsarten zur Geltung und werden in abgestuften Reduktionsgraden präsentiert. Darüber hinaus bestimmen die Vokalfarben [a] und [ɔ] den gesamten Aufbau des Stücks (Abb. 8). Sie wechseln sich von Station zu Station und von Feld zu Feld ab: in den Tutti-Akkorden, den absteigenden Linien und als Begleitung zum roboterhaften Sprechen. Dramaturgisch ist währenddessen eine ansteigende und wieder abfallende Kurve zu erleben. Nach den einleitenden Stationen bildet das roboterhafte Sprechen den zentralen Teil der Komposition, deren Kernphrase Was noch. sich etwa im Goldenen Schnitt befindet. Im Anschluss übernimmt die Stille nach und nach die Oberhand und lässt das Werk ausklingen.

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Abbildung 8: Formübersicht von „Was noch.“

In einem Gespräch mit Marion Saxer bei der Darmstädter Arbeitstagung im März 2002 gestand Michael Reudenbach ein, dass er zum „Komponieren mit bzw. für Stimme ein distanziertes Verhältnis [habe], weil [er] es für schwierig, ja unter bestimmten Umständen sogar für unmöglich [hält].“14 Trotz dieses Verhältnisses sind Vokalkompositionen in seinem Werkverzeichnis in größerer Anzahl vertreten.15 Als zukünftige Möglichkeit für das Komponieren mit Stimme sprach er außerdem von „der Musikalisierung der Sprache“.16 Einen entsprechenden Ansatz hat er nun in „Was noch.“ verfolgt. Diesen verknüpft er mit „rigid reduzierte[n] Ereignisse[n]“, wie er in seinem Einleitungstext schreibt.17 Einen technischen Aspekt trifft das durchaus; das Klangresultat hingegen ist alles andere als rigid. Durch die regelmäßigen Permutationen der Aufstellung hört sich das Vokalensemble niemals gleich an, sodass der Raum stets in ein anderes Licht getaucht wird. Auch die einzelnen Stationen setzen sich andauernd aus neuartigen Kombinationen zusammen, die unbekannte klangliche Perspektiven eröffnen. Michael Reudenbach begibt sich in seinem Werk auf die Erkundung vielfältiger Möglichkeiten, die aus dem besonders reduzierten Material von bloß zwei Silben entspringen.

Doch nicht nur Jürgen Beckers Was noch. ist ausschlaggebend für die Vokalkomposition. In der Anordnung der Stationen und in der Konzeption der Felder verbirgt sich ebenso eine Parallele zu dem Prosaband. Zu jedem Zeitpunkt stellen sich die Fragen: Wie anfangen? Wie weiter? Wie fortsetzen? Wie beenden? Es wird weiter- und weitergeblättert, es wird sich hierhin und dorthin gewendet. Stets werden neue Antworten gesucht. Eine unsichtbare Kraft richtet das Magnetfeld auf der Bühne immer neu aus. Bleiben nach vielem Blättern die gestellten Fragen unbeantwortet, liegt die Antwort etwa im Schweigen? nicht sicher / wer / mal sehen / was noch / sonst nichts (94).

1 Nonnenmann, „Jenseits des Gesangs“, S. 31.
2 Schnebel, „Stimme – Geschichte und Wesen“, S. 285.
3 Nonnenmann, Art. „Sprache/Sprachkomposition“, S. 563 und 565.
4 Das gleiche Verfahren ist in Reudenbachs „kommen. Überschreibungen für 5 Stimmen“ (2001) zu erkennen. Das Wort „kommen“ aus einem Brief Emma Haucks wird zum Grundmaterial des gesamten Stücks. Die Vokale o und e und die Konsonanten k, m und n werden in verschiedenen Konstellationen verarbeitet (vgl. Saxer/Reudenbach, „Anmerkungen zum vokalen Komponieren“, S. 274).
5 Vormweg, „Nachwort“, S. 149.
6 Ebd., S. 152 und 150.
7 Reudenbachs „Was noch.“ ist eine Komposition „mit Texten von Jürgen Becker“. Parallel dazu ist das Folgende eine Analyse „mit Texten von Jürgen Becker“. Die kommentierenden Zitate aus „Felder“ sind kursiv gesetzt und mit der zugehörigen Feldnummer in Klammern gekennzeichnet.
8 Reudenbach, „Was noch. für 24 Stimmen mit Texten von Jürgen Becker“, S. 3.
9 Solche teilweise „vorsprachliche[n] Lautäußerungen“ wurden etwa im französischen Lettrismus von Isidore Isou zu einer Enzyklopädie zusammengestellt (vgl. Nonnenmann, Art. „Sprache/Sprachkomposition“, S. 563).
10 Alle Töne in „Was noch.“ sind im traditionellen zwölftönigen System notiert.
11 Hummelt, „Bahnfahren“, S. 12.
12 Primzahlen spielen auch in anderen Werken Reudenbachs eine Rolle, z. B. in „Trio. Studie“ oder „und aber.“ (Möller, „Offenheit, offene Fragen. Der Komponist Michael Reudenbach“, S. 53).
13 Laut Auskunft von Michael Reudenbach (Mail am 19.04.2024) spielten Primzahlen während des Kompositionsprozesses auch auf anderen Ebenen eine wichtige Rolle, z. B. bei Textgliederung, Mikrostrukturen, Makroform.
14 Saxer/Reudenbach, „Anmerkungen zum vokalen Komponieren“, S. 271.
15 Beispielsweise „5 Raumetüden“, „Madrigal“ oder „kommen. Überschreibungen für 5 Stimmen“.
16 Saxer/Reudenbach, Ibid. S. 272.
17 Reudenbach, „Was noch. für 24 Stimmen mit Texten von Jürgen Becker“, S. 3.

Literatur

Becker, Jürgen (2016), Felder, Bibliothek Suhrkamp 978, Berlin: Suhrkamp Verlag.
Hummelt, Norbert (2003), »Bahnfahren«, in: Jürgen Becker (= Text + Kritik, Heft 159), hg. von Heinz Ludwig Arnold, München: edition text + kritik, S. 7–14.
Möller, Torsten (2016), »Offenheit, offene Fragen. Der Komponist Michael Reudenbach«, in: MusikTexte, Bd. 151, S. 51–54.
Nonnenmann, Rainer (2010), »Jenseits des Gesangs. Sprach- und Vokalkompositionen von Schwitters bis Schnebel«, in: MusikTexte, Bd. 126, S. 31–40.
––– (2016), Art. »Sprache/Sprachkomposition«, in: Lexikon Neue Musik, hg. von Jörn-Peter Hiekel und Christian Utz, Kassel: Bärenreiter-Verlag, S. 561–566.
Reudenbach, Michael (2001), kommen. Überschreibungen für 5 Stimmen, E MR 28.
––– (2023), Was noch. für 24 Stimmen mit Texten von Jürgen Becker, E MR 50.
Saxer, Marion und Michael Reudenbach (2003), »Anmerkungen zum vokalen Komponieren«, in: Stimme (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt, Bd. 43), hg. vom Institut für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt, Mainz: Schott, S. 271–280.
Schnebel, Dieter (1972), »Sprache – hin oder zurück. (Neue Chormusik)«, in: ders., Denkbare Musik. Schriften 1952–1972, hg. von Hans Rudolf Zeller, Köln: M. DuMont Schauberg, S. 402–415.
––– (2003), »Stimme – Geschichte und Wesen«, in: Stimme (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt, Bd. 43), hg. vom Institut für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt, Mainz: Schott, S. 285–292.
Vormweg, Heinrich (2016), »Nachwort«, in: Jürgen Becker, Felder, Bibliothek Suhrkamp 978, Berlin: Suhrkamp Verlag, S. 149–156.

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