Ultra- und Inframodernismus
BerichtDas Festival „A Tribute to Ruth Crawford“ der Ensembles E-MEX und oh ton
Die zeitgenössische Presse lobte ihre Musik als „maskulin“ wegen der schroffen Dissonanzen, konstruktiven Strenge und rücksichtslosen Heterophonie. In der Männerdomäne Musik wurde sie geschätzt, aufgeführt, publiziert, institutionell in die New Music Society eingebunden und als erste Frau mit einem Stipendium der Guggenheim Foundation gefördert. Doch sie heiratete, wurde Mutter von vier Kindern, nahm eine feste Stelle in der Volksmusikforschung an, widmete sich der Musikerziehung, engagierte sich in der Gewerkschafts- und Arbeitermusikbewegung und gab dafür das Komponieren lange Zeit auf. Als sie nach fast zwanzig Jahren Pause gerade wieder Musik zu schreiben begonnen hatte, starb sie noch recht jung an Krebs: Ruth Crawford (1901–1953).
An der amerikanischen Ostküste geboren und in Florida aufgewachsen, studierte sie in Chicago Klavier und Komposition. Durch zusätzlichen Unterricht bei der ehemaligen Skrjabin-Schülerin Djane Lavoie-Herz kam sie mit dem theosophisch angehauchten Komponisten Dane Rudhyar und der Gruppe der „Ultra-Modernists“ um Henry Cowell in Kontakt. 1929 zog sie nach New York und nahm – auf Cowells Empfehlung – Kompositionsunterricht bei Charles Seeger, den sie zwei Jahre später heiratete. Zuvor war sie 1930/31 in Europa, wo sie unter anderem Bartók und Berg traf, Schönberg aber während eines längeren Aufenthalts in Berlin mied. Ab 1936 bauten sie und ihr Mann die Volkslied-Abteilung der Library of Congress in Washington D.C. auf. Zudem bearbeitete sie amerikanische Volkslieder und gab drei solche Sammlungen für Gesang und Klavier heraus. Ihr kompositorisches Œuvre umfasst gerade einmal zwanzig klein besetzte und eher kurze Werke. Doch manche davon haben es in sich.
Die Ensembles E-MEX und oh ton porträtierten Crawford mit dem Festival „A Tribute to Ruth Crawford“. Die ausgezeichneten Interpret:innen boten drei verschiedene Programme in der Alten Feuerwache Köln sowie ein Wiederholungskonzert im theater wrede + in Oldenburg. Der Dirigent und künstlerische Leiter Christoph Maria Wagner nannte Crawford im Programmheft „die wohl bedeutendste Komponistin der USA im 20. Jahrhundert, vielleicht auch global der ersten Jahrhunderthälfte überhaupt“. In der amerikanischen Musikgeschichte ist die exzeptionelle Künstlerin durchaus kanonisiert. Doch ihre Werke werden in den USA und hierzulande nur äußerst selten aufgeführt. Ebenso unbekannt ist in Europa der „Ultra-Modernism“ derjenigen Komponist:innen im New York der 1920er und 30er Jahre, die sich von der europäischen Spätromantik und Moderne abnabeln wollten, um in der Nachfolge von Charles Ives eine eigene amerikanische Avantgarde zu kreieren. Das Festival zeigte nun sowohl die hörbaren Innovationen und Eigenheiten dieser Musik als auch deren Kontinuitäten zum „langen“ 19. Jahrhundert sowie Parallelen zu zentralen Aspekten der europäischen neuen Musik von Bartók, Strawinsky, Schönberg und der ebenfalls um 1900 geborenen Generation von Schulhoff, Hindemith, Krenek, Weill, Hartmann und anderen.
Bedeutendste Komponistin der USA
Crawfords „Preludes“ von 1925 – von Pianistin Claudia Schott brillant vorgetragen – unterscheiden sich kaum von Alexander Skrjabins „Deux Poemes“: Hier wie dort gibt es expressive Gestik und aus Quarten und Tritoni geschichtete Harmonik wie in Skrjabins „Prometheus-Akkord“. Romantizismen, Alterationsakkorde und Chromatik prägen auch die Sonate für Violine und Klavier, packend gespielt von Kalina Kolarova und Martin von der Heydt. Im Kopfsatz schlagen clusterartig verdichtete Akkorde allerdings auch andere Töne an und die tänzerische Motorik des zweiten Satzes erinnert an das zeitgleiche lineare Komponieren europäischer Komponist:innen. Die „Music for Small Orchestra“ schrieb Crawford 1926 noch während ihrer Zeit als Schlagzeugerin im Chicago Civic Orchestra, weshalb gleich zwei der lediglich zehn Stimmen für Perkussionsinstrumente gedacht sind. Besetzung, Reduktion, Form, Faktur, dissonante Härte und mechanische Nüchternheit zeigen – ähnlich der Neuen Sachlichkeit – eine entschiedene Abkehr von romantischer Monumentalität und Expressivität. Der erste Satz kombiniert verschiedene Ostinato-Elemente im Verhältnis von 4:5:6 zu bitonal schwebenden und somnambul treibenden Klangflächen. Nach demselben Additionsprinzip bildet der zweite Satz ein rotierendes Getriebe, das immer mehr beschleunigt, bis die überdrehten Zahnräder auseinanderzufallen drohen. Ostinati prägen auch die „Suite Nr. 2“ für vier Streicher und Klavier von 1929, die zudem eine freitonale Fuge enthält. Polyrhythmische Überlagerungen 3:4:5:6 gibt es ebenso in Crawfords 1932 vollendeten „Three Songs“ auf Gedichte von Carl Sandburg für die aparte Kombination von Alt, Oboe, Schlagzeug und Klavier.
In der „Piano Study in Mixed Accents“ von 1930 verlagert Crawford die vertikale Schichtung polyrhythmischer Stimmen in die Horizontale. Der Pianist spielt mit beiden Händen dieselbe schnelle Sechzehntelfolge in Oktaven und setzt metrisch frei Akzente nach wahlweise zwei, drei, vier, fünf, sechs oder sieben Anschlägen. Martin von der Heydt spielte diese zuckende Intervallkette ebenso hochenergetisch wie präzise. Das „String Quartet“ von 1931 ist äußerlich klassisch viersätzig und zugleich eines von Crawfords radikalsten Werken. Statt gattungstypischer Polyphonie herrscht im Kopfsatz totale Heterophonie. Alle Stimmen spielen mit jeweils anderer Rhythmik, Tonalität und Spieltechnik. Der zweite Satz stellt je zwei Instrumente mit fugierten und dazu kontrapunktisch versetzten Stimmen gegenüber. Den dritten Satz beschrieb die Komponistin selbst als „a heterophony of dynamics – a sort of counterpoint of crescendi and diminuendi“ (Programmheft). Auf wenige Tonwechsel kommen umso mehr differenzierte und konsequent gegenläufige Dynamikangaben. Die Stimmen erreichen niemals gleichzeitig, sondern stets versetzt das dynamische Maximum oder Minimum, so dass sie unablässig zwischen Vorder- und Hintergrund oszillieren und durch ihre wechselseitige Überlagerung eine vibrierende „Klangfarben-Melodie“ im Sinne Schönbergs resultiert, die zugleich Ansätze von Scelsi, Ligeti oder des „suono mobile“ des späten Nono vorwegzunehmen scheint. Das Finale des nur zwölf Minuten dauernden Quartetts konfrontiert dann in neoklassizistischer Manier die konzertierende Primgeige mit dem Ripieno des Untersatzes.
Ein Jahr vor ihrem Tod schrieb Crawford das Bläserquintett mit vier attacca aufeinander folgenden Sätzen. Die idealtypische Verbindung von Material, Struktur, Form und Ausdruck zeigt hier einmal mehr Crawfords besondere musikalische Intelligenz, kompositorische Vorstellungskraft und handwerkliche Fähigkeit. Der Kopfsatz schichtet abermals ostinat wiederholte Drehfiguren übereinander, deren tonal und rhythmisch eigenständige Linien sich im Zeit- und Tonraum jedoch sukzessive verschieben, bis plötzlich alle fünf Stimmen exakt synchron im Unisono spielen. Quantitative Veränderungen treiben eine neue Qualität hervor, Vielstimmigkeit schlägt dialektisch in Einstimmigkeit um. Das darf man bei dieser sozialistisch gesinnten und gewerkschaftlich aktiven Komponistin durchaus als das politische Statement verstehen, Partialinteressen im Gemeinwohl zu bündeln. Dagegen erinnern andere Passagen mit ihrer linearen Motorik und folkloristischen Motivik eher an die neusachlichen Spielmusiken der 1920er Jahre, wie sie dies- und jenseits des Atlantiks viel geschrieben wurden.
New Yorker Szene
Der irischstämmige Pianist und Komponist Henry Cowell entwickelte seine Art von Ultramodernismus primär auf dem Klavier. Er war der erste, der mit Unterarmen Cluster aufs Klavier stemmte, die Tastatur mit Fäusten traktierte und die Jahrhunderte alte Barriere zum Innenklavier überwand. Ab 1922 sorgte er bei mehreren ausgiebigen Konzertreisen durch Europa für Furore. Bartók bat ihn um die Erlaubnis, ebenfalls solche „tone clusters“ verwenden zu dürfen. Cowell war es auch, der seit 1927 in New York als Verleger der Edition „New Music: Quarterly Periodical Publishing Modern Compositions“ sowie ab 1933 in Los Angeles mit der Schallplattenserie „New Music Quarterly Recordings“ Crawford und viele andere zeitgenössische Komponierende publik machte – großzügig finanziell unterstützt vor allem vom erfolgreichen Versicherungskaufmann Charles Ives und dem Dirigenten Nicolas Slonimsky. Cowells „The Banshee“ von 1925 – benannt nach einer keltischen Totenfee – ist wohl das erste Stück der Musikgeschichte, das ausschließlich auf dem Saitenchor gespielt wird. Mit Handflächen, Fingerkuppen und Fingernägeln wischt und reibt Pianistin Claudia Schott längs und quer der Saiten. Je nach Intensität und Druck entsteht dunkles Raunen, aggressives Fauchen, grelles Kreischen oder gespenstisches Wimmern. Das Show- und Gruselstück zeigt typisch US-amerikanische Experimentier- und Spielfreude und passte kalendarisch gut zu „Halloween“. Der erste Satz von Cowells 1938 komponierter „Rhythmicana (Cahill)“ ist dem Gestus nach allerdings bloß ein durch querständige Zusatztöne verfremdeter Schmachtfetzen à la Rachmaninow, mehr infra- als ultramodernistisch. Der zweite Satz präludiert frei durch verschiedene Ton- und Traumwelten, während der dritte als langsamer Walzer im 5/4-Takt mit fulminant falscher Grandezza übers Parkett stolpert.
Charles Seeger war Lehrer von Cowell und Crawford. Er beeinflusste beide mit seiner Lehre vom „dissonanten Kontrapunkt“, also der Idee, die traditionelle Melodiebildung mittels Dreiklängen, Konsonanzen, Wiederholungen, rhythmischer Kongruenz und periodischer Phrasenstruktur möglichst konsequent zu vermeiden, um stattdessen alle Einzelstimmen zu größter Autonomie zu emanzipieren. Ein vergleichbares Prinzip entwickelte zeitgleich der Musikwissenschaftler Ernst Kurth an der Universität Bern anhand der Musik von Johann Sebastian Bach. Kurths „Grundlagen des linearen Kontrapunkts“ (1917) rezipierten damals vor allem Hindemith und Krenek. In Seegers „Danza Lenta“ von 1945 singt die Violine – von William Overcash fein und ausdrucksvoll gespielt – eine in ihren Kerntönen und Figuren ebenso schlichte wie reich verzierte Melodie. Deren variiert wiederkehrende und dadurch formal gliedernde Elemente bilden indes mehr eine unendliche Arabeske denn eine Melodie mit klarem Anfang, Verlauf und Schluss. Aufgrund der Dominanz von Monodien sprach man damals gerne von Neo-Byzantinik. Leon Ornstein gehörte nicht zum Kreis der „Ultra-Modernists“, war aber damit assoziiert. Sein „Wild Men´s Dance“ von 1913 erinnert an Bartóks „Allegro Barbaro“ von 1911. Doch statt handzahm Ton für Ton zu spielen, werden mit grober Tigertatze immer mehrere Tasten gleichzeitig angeschlagen. Die perkussiven Kleincluster und über die Tastatur auf und ab fauchenden Glissandi klingen ungezügelt und wild. Bei aller dissonanten Schärfe und körperlichen Haptik folgen sie jedoch dem Duktus eines Walzers, was die Pseudoradikalität als brav bürgerlich und einmal mehr den proklamierten Ultra- als Infra-Modernismus entlarvt.
Macklay, Obermüller, Orozco
Die Crawford und den Ultramodernisten gewidmete Retrospektive wurde durch drei Auftragswerke jüngerer Komponist:innen ergänzt, die alle auf die für Crawfords Musik typischen polyrhythmischen Ostinati und Heterophonien reagierten. Die 1988 geborene US-amerikanische Komponistin, Oboistin und Installationskünstlerin Sky Macklay griff in „Mixed Study in Rat Accents“ die unvorhersehbaren Akzente der „Piano Study in Mixed Accents“ auf und instrumentierte sie für Kammerensemble und sprachliche Akzente. In Anlehnung an Crawfords Vertonung von Sandburgs „Rat Riddle“ in den „Three Songs“ stellte nun Mezzosopranistin Jennifer Panara vier verschiedene Rattencharaktere dar und die vier Streicher spielten jeweils verschiedene Ostinati. Karola Obermüllers „Bridges to Ruth“ knüpfte an Ideen von Crawfords „Preludes“ und „Music for Small Orchestra“ an. Die 1977 in Darmstadt geborene und seit 2023 als Professorin an der University of California San Diego lehrende Komponistin ließ zunächst ruhige Liegetöne zu flatterhaften Saltandi zerfallen, dann ein vielfarbiges Unisono durch zunehmende Rhythmisierung und Dynamik immer vielstimmiger werden, um schließlich im dritten Satz durch schnelle Läufe, Intervallfolgen und Glissandi einen malstromartigen Sog zu erzeugen.
Die Uraufführung von „Topia II“ des 1976 geborenen Mexikaners Iván Ferrer Orozco begann ohne Saal- und Bühnenlicht im Dunkeln. Mehrkanalig über Lautsprecher hörte man die Klanglandschaft eines Waldes mit vielstimmigem Zwitschern, Sirren, Rascheln, Knacken, Krabbeln. Erst dann betraten die Musiker:innen der Reihe nach die Bühne und ergänzten diskret die ruhig-geschäftige Atmosphäre mit leise murmelnder Klarinette, wispernder Geige, zart tremolierendem Cello, knarzendem Waldteufel, sanftem Schaben im Innenklavier, kratzendem Schlagzeug, huschenden Pizzikati der Bratsche. Die Naturlaute gingen fließend in Instrumentalklänge über, die dann zwischenzeitlich die Oberhand gewannen, bis sich am Ende beide Sphären wieder symbiotisch durchdrangen. So verwandelte sich Ruth Crawfords Heterophonie verschiedener Stimmen zur Autonomie einzelner Organismen in ein und demselben Ökosystem. Diese aktuelle Umdeutung ihres zentralen Kompositionsprinzips hätte der gesellschaftspolitisch aktiven Komponistin sicher gefallen.