Liquid Soundart 

Interview

Stefan Fricke im Gespräch mit Peter Kiefer

Stefan Fricke: Klangkunst ist ein Begriff, der seit einigen Jahrzehnten oft und kontrovers diskutiert wird.

Peter Kiefer: Auf vielen Symposien, die ich als Gast oder als Veranstalter erlebt habe, wurde und wird die Frage »Was ist Klangkunst?« immer wieder thematisiert. Inzwischen versuche ich, diese Diskussionen zu vermeiden, wenn ich sie als »rein akademisch« empfinde. Klangkunst oszilliert zwischen Begrifflichkeiten und sträubt sich einer eindeutigen Definition. Der Komponist Manos Tsangaris sagte mal, Klangkunst sei wie »der Griff an einem Koffer« – also eine Art Werkzeug. Das fand ich ein schönes Bild. Irgendwie versteht auch jeder, was mit dem (Be-)Griff transportiert werden soll. Klangkunst ist ein Terminus, der die Kommunikation über eine künstlerische Erscheinungsform ermöglicht, in deren Natur es liegt, sich einer Festlegung zu entziehen oder – positiv ausgedrückt –, die sich erstaunlich offen zeigt und sich gerne zwischen den Stühlen ansiedelt. Für mich ist Klangkunst etwas Offenes und Einladendes und das Gegenteil von etwas Trennendem.

Was kann Klang, was sichtbare Materialien nicht können?

Klang spricht uns aus wahrnehmungsphysiologischen Gründen viel direkter und ungefilterter an als visuelle Reize. Wie auch der Geruch geht er direkter an sehr alte Gehirnschichten und spricht Erinnerungen und Emotionen an. So hat unser Gehirn (bzw. die Hörbahn) schon die Richtung, aus der ein Klang kommt, festgestellt, ehe dieser überhaupt bewusst von uns wahrgenommen wird. Klang ist immer mit Bewegung, also Leben, verbunden, immer raumgreifend und immer vergänglich. 

Was kann Sichtbares, was Klänge nicht vermögen?

Das Visuelle kann viel besser strukturierte und rationale Inhalte transportieren. Beispiel: »Bitte schließen Sie die Augen und stellen Sie sich einen Lichtpunkt vor! Dieser bewegt sich 10 cm nach oben, dann 10 cm nach rechts, nun 10 cm nach unten und jetzt 10 cm nach links. Was sehen Sie? Ja, richtig!« Eine solche Herangehensweise ist mit Klang einfach unmöglich. Über Klang zu sprechen ist schwierig, man nutzt meist visuelle Hilfswörter: spitz, rau, farbig, stumpf… Sichtbares lässt sich einfach besser gegenständlich beschreiben. Aber natürlich sind diese Differenzierungen wieder nur eine Handhabbarmachung mit vielen unsagbaren Unterströmungen.

Wie würdest du deine eigene Kunst beschreiben?

In meinen Arbeiten geht es immer um das Zuhören, mehr noch als um Klangproduktion. (Vielleicht sollte ich mich weniger als Klangkünstler beschreiben, sondern eher als ein Zuhör-Ermöglicher.) Wichtig ist für mich (fast) immer ein konkreter Bezug zu einem Ort, Raum oder Anlass – ein In-Kontext-Setzen des Zuhörens und eine Sensibilisierung für den Hörsinn. Die Begriffe »Klangraum« und »Raumklang« sind in ästhetischer Hinsicht wichtige Marksteine für mich.

Wo liegen deiner Meinung nach die ästhetischen Wurzeln der Klangkunst?

Die Wurzeln basieren auf den jeweils aktuellen Entwicklungen eines intermediären Musik- und Kunstverständnisses, das sich in den vergangenen Dekaden ausgeprägt hat. Dort fokussieren sich Strömungen der Neuen Musik, der elektronischen Komposition, der bildenden Kunst, der Medienkunst und der radiophonen Kunst zu einer erweiterten thematischen Einheit. Ästhetisch gesehen ist es – im Sinne eines »auditory turn« – die Wiederentdeckung eines vernachlässigten Sinnes als Material für Kunst und Forschung. Anders gesagt: Die Sinne waren ja nie getrennt. Die Aufspaltung der Kunst in eine den einzelnen Sinnen zugeordnete ist ein Produkt der Neuzeit und der Dominanz des Visuellen im 20. Jahrhundert. Diese Vorherrschaft in der Kunst und anderswo hat langsam zu bröckeln begonnen. Und das ist gut so. Meine These ist ja, dass das 21. Jahrhundert ein Zeitalter des Hörens und damit auch der Verinnerlichung werden wird.

Wie entstand bei dir die Lust, Neugierde, Notwendigkeit, mit dieser Verbindung der Sinne zu arbeiten?

Ausübende Musiker sind sich ja durchaus auch des visuellen Eindrucks bewusst, den sie mit ihrer Darbietung transportieren. Viele Rituale und Kleiderordnungen der Konzertwelt, ob auf der klassischen oder der Pop-Bühne, zeigen dies sehr deutlich. Musiker sind ja nicht blind und sich der visuellen Wirkung ihrer Darbietung sehr bewusst. (Vielleicht manchmal auch zu sehr.)
Ursprünglich habe ich Schlagzeug studiert, und so bin ich zu meinen ersten Klangobjekten gekommen: Denn als Schlagzeuger befasst man sich natürlich mit Geräuschen und ungewöhnlichen Klangerzeugern. Wir hatten an der Musikschule Düren ein Schlagzeugensemble, für das ich Instrumente selbst gebaut habe: ein Kuhglockenspiel oder einen riesigen Bambusschraper (für Cage). Die waren dann schon so etwas wie reine Klangobjekte im Sinne von Luigi Russolos Intonarumori aus den 1910/20er Jahren. Später habe ich mich dann in der Welt der Medien mit Sampling und Soundscapes auseinandergesetzt. Mich hat also schon sehr früh beschäftigt, wie Objekt, visuelle Erscheinungsform und Klang interagieren.

Musik, Klänge erkunden war demnach immer schon sehr wichtig für dich?

Seit ich denken kann. In der bescheidenen, eher aus James-Last- und Operetten-Alben bestehenden Schallplattensammlung meiner Eltern habe ich mir die LPs mit Musik von Robert Schumann oder »Große Stimmen des Jahrhunderts« rausgesucht. Parallel habe ich mit dem Elektrobaukasten gebastelt und Röhrenradios auseinandergebaut. In der Realschule gab es einen unglaublich engagierten Musiklehrer, der in der reinen Jungenschule ein Orchester aufgebaut hatte, indem er viele Instrumente selbst gekauft hat. Er war völlig cholerisch, aber er hat mit uns »Frau Luna« von Paul Lincke oder ähnliche Werke aus Klassik und gehobener Unterhaltungsmusik einstudiert und aufgeführt. Ich erinnere mich an mein erstes Konzert, sehr aufregend, im neuen Kurhaus von Bad Aachen. Ich musste einen weißen Rollkragenpulli aus Kunstfaser tragen, der fürchterlich juckte, dennoch habe ich mit der Triangel alle Einsätze absolviert. 
Eigentlich wollte ich Klavier spielen, aber wir hatten keines zu Hause. Dann fiel die Wahl auf Trompete, die war aber zu laut für eine Mietwohnung. So habe ich Schlagzeug gelernt – wie das dann ging, überlasse ich deiner Fantasie. 
Ich spielte auch Schlagzeug in einem sehr erfolgreichen Jugend-Unterhaltungsorchester und in Tanzmusikkapellen, so dass ich zu Beginn des Studiums meinen Kommilitonen schon eine beachtliche Bühnenerfahrung voraushatte. Damit verdiente ich auch mein erstes Geld und kaufte mir ein altes Klavier. Allerdings musste ich dafür in den beengten Wohnverhältnissen auf mein Bett verzichten.
Mein erster Schlagzeuglehrer hat mich nach eineinhalb Jahren an seinen Onkel verwiesen, da er meinte, er könne mir nichts mehr beibringen. Josef Offelder war Lehrer an der Musikschule Düren, Schlagzeuger im städtischen Orchester Aachen und dessen Geschäftsführer sowie Dozent an der Hochschule für Musik Köln, Abteilung Aachen. Seine Vielfalt erwies sich als sehr gut für mich: An der Musikschule Düren machte ich die Vorberufliche Fachausbildung, deren Theorieteil ich als Jungstudent an der Hochschule für Musik in Aachen mit den »richtigen« und sehr viel älteren Musikstudierenden absolvieren durfte. Und dann durfte ich während des Studiums bei zahlreichen Aufführungen des Sinfonieorchesters Aachen mitwirken. Bei Beendigung des Studiums hatte ich so viel Orchestererfahrung, dass ich wusste, dass dies nicht mein Weg ist, und habe Komposition studiert. Kreativ tätig war ich schon immer, und bald erhielt ich Aufträge für Kompositionen, so vom Landestheater Neuss für Schauspiel- und Bühnenmusiken. Als Regieassistent arbeitete ich völlig begeistert in der Oper, war Fan des Balletts und durfte auch Musik für die jungen Choreographen schreiben. Ich habe auch schon früh Konzerte veranstaltet und mit dem »Treibhaus Musik« in Aachen mehr als zwanzig Uraufführungen organisiert, von denen der WDR einige mitgeschnitten hat. Weiterhin habe ich im Sinne eines Autorenverlages einen Musikverlag gegründet und selbst noch mit Letraset Notensatz betrieben.

Du hat an der Universität Köln in dieser Zeit auch noch Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften sowie Musikwissenschaft und Philosophie studiert. 

Ja, und währenddessen Musik für künstlerische Videos und für WDR- Fernsehmagazine geschrieben. 1991 erhielt ich einen Lehrauftrag an der Kunsthochschule für Medien Köln (KHM) und habe das Fach »Musikgestaltung in den Medien« quasi erfunden. Der Austausch mit der Welt der Medienkunst hat mich geprägt. Auch wenn ich nur wenig älter war als die postgraduierten Studierenden, war ich der Einzige, der Klang in Lehrveranstaltungen strukturiert unterrichtete und dafür auch ein Curriculum entwickelt hatte. Das war recht erfolgreich, weil ich immer mehr Lehrauftragsstunden auch von den anderen Bereichen bekommen habe, u.a. aus der Filmmusik und Mediengestaltung. Aber es war immer auch ein Schritt ins Ungewisse, weil ich ja darin keine Ausbildung hatte, einfach auch, weil es keine Ausbildung dafür gab. Die Aufbruchstimmung an der KHM war allerdings super: Wir waren technisch Highend und mit der Kunst im medialen Kontext mit einem neuen Lehrformat à la »digitales Bauhaus« weltweit anerkannt. Bei guter finanzieller Ausstattung konnten wir auch wirklich fantastische Projekte realisieren: etwa ein Klangkunstevent bei der »Fabbrica Europa« in Florenz oder das Projekt »Ex Machina« mit Fabrizzio Plessi für das Festival »Charleroi Danses« als Europatournee. Für Fabrizzio habe ich auch Klangräume komponiert, zum Beispiel für die Videoinstallation »Bombay-Bombay«, die international in sehr vielen Museen für moderne Kunst ausgestellt wurde. 
Von 1990 bis 1993 war ich Mitglied der »Bauhütte Klangzeit« in Wuppertal und habe dort mit meiner jetzigen Frau, Anne Katrin Voss, Klangkunstwerke realisiert. Bei der »Soundart 95« in Hannover war ich mit vielen hochgeschätzten Kollegen eingeladen. Ich bin also jetzt seit dreißig Jahren in der Szene unterwegs. 
Beruflich ging es 1996 weiter, als ich festangestellter künstlerisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter an der KHM wurde und dort mit Anthony Moore das »MusicDept« und das Klanglabor gegründet habe. Viermal haben wir das Festival »per->SON« veranstaltet, das sich 2004 in dem von mir kuratierten Festival »Klangraum – Raumklang« komplett der Klangkunst widmete. Von 2000 bis 2004 war ich Professor an der KHM und parallel ab 2001 an der Hochschule für Musik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Hier sollte ich die Welt der Medien in die Welt der Klänge bringen, also genau das Umgekehrte wie an der KHM Köln. Konsequenterweise konnte ich 2009 dort den in Deutschland einmaligen Studiengang »Klangkunst-Komposition« etablieren. Und von 2018 bis 2023 habe ich dort das Forschungsprojekt »ARS - ArtResearchSound« geleitet.

Gibt es für dich ein »Erlebnis John Cage«?

Jetzt fühle ich mich wieder wie ein Großvater, der von seinen längst vergangenen Erlebnissen berichtet. Tatsächlich habe ich John Cage persönlich kennenlernen dürfen und habe noch eine handgeschriebene Notiz von ihm. Es gab in den 1980er Jahren ein großes Wandelkonzert im Kölner Kunstverein. Dort führte er sein berühmtes Stück »4‘33‘‘« auf, indem er zwischendurch ein Wasserglas umdrehte – I wasn’t really impressed. Auch die Ehrfurcht im Publikum hat mich irritiert. Es wurde auch ein Stück mit vier oder fünf Radios aufgeführt – von den Größen der Kölner Musikszene. Die Zeitstruktur gab die Brenndauer kleiner Kerzen vor. Als die aktive Performance eigentlich schon beendet war und nur noch die Radios auf der Bühne spielten, brannte eine Kerze weiter und wollte einfach nicht ausgehen. Irgendwann ging Johannes Fritsch auf die Bühne, pustete die Kerze aus und stellte das ihr zugeordnete Radio aus. Ich war völlig entsetzt und empfand es als inkonsequent dem Konzept gegenüber. Ich glaube, John Cage war da schon beim Buffet und hat das nicht mitbekommen.
Aber Cage hat mich von früher Jugend an begleitet, so habe ich als Schüler an der Musikschule die »Amores« und »Construction in Metal« gespielt, und die komplexen Rhythmen sind mir noch gut in Erinnerung (Nonolen über drei und Dezimolen über vier Viertel). Ansonsten war für mich die Begegnung mit Luigi Nono prägend, und weitere Klanghelden sind für mich Charles Ives, Iannis Xenakis, Edgard Varèse und auch Karlheinz Stockhausen, den ich an der KHM und während seiner Kurse in Kürten besser kennen- und immer mehr schätzen gelernt habe.

Viele Klangkünstler, also Installationsarbeiter, sind auch als Performer unterwegs und/oder arbeiten zeitweise ganz radiophon, manchmal grafisch kompositorisch... 

Legt man den Fokus auf das Zuhören, ist es ganz folgerichtig, dies in unterschiedlichen Formaten zu zelebrieren: Dazu gehört die Entwicklung von Raumklang- bzw. Klanginstallationen genauso wie das Erstellen performativer Konzepte oder medialer Präsentationen. Das Heterogene von Klangkunst zeigt sich auch hier: Der »multikanale« Klangraum einer Installation kann in einigen Fällen durchaus als Stereomischung in einem Radioprogramm künstlerisch Sinn ergeben. Und Performances, zum Beispiel von Christina Kubisch, die Material ihrer »Electrical Walks« in Konzertformaten präsentiert, sind musikalisch genauso valide und kompositorisch durchdacht wie klassische Werke der elektronischen Musik. Grafische Repräsentationen übernehmen hierbei oft die gleiche Funktion wie Werkskizzen für Kataloge der bildenden Kunst, wenn sie nicht eigenständig sind wie die Arbeit »Songbook 1-6« von Rolf Julius. Natürlich ist Klangkunst immer noch bis auf wenige Ausnahmen kaum etwas für Kunstsammler außerhalb von Museen, ähnlich wie zu den Anfangszeiten der Videokunst. Da hilft es ökonomisch schon mal, auch grafische Arbeiten anbieten zu können. Das sind aber eher allgemeine Bemerkungen, die mit meiner Realität wenig zu tun haben. Es ist mir selten gelungen, ein Werk an eine Galerie oder einen Sammler zu verkaufen.

Muss Klangkunst immer die Verbindung von Auge und Ohr sein, von Hören und Sehen? Oder kann Klangkunst auch nur für das Auge sein oder nur für das Ohr? Geht das überhaupt und wie? Oder müssen wir solche Arbeiten mit anderen Begriffen bekleiden?

Tatsächlich gibt es »stille« Klangkunst, die selbst nicht tönt, aber das Zuhören thematisiert, zum Beispiel die »HörStation« mit den Hörhelmen von Mirja Wellmann, die Tonpunkte »Oto-date« von Akio Suzuki oder »Schizophone« von Pierre-Laurent Cassière. Auch Christina Kubischs »Electrical Walks« tönen ja nicht selbst, sondern vermitteln die Klangeindrücke elektrischer Felder über eine technische Transformation. Und umgekehrt geht es auch: Interessanterweise ist es die Vertreterin einer stillen Klangkunst, nämlich Mirja Wellmann, die ihre ortsbezogenen Hörprotokolle in visuelle Skulpturen verwandelt, die mit verwobenen Strukturen das Ineinandergreifen von Klängen dokumentieren. In allen Beispielen geht es aber immer um das Bewusstmachen des (Seins-)Zustandes des Hörens. Und solches ist meiner Meinung nach im Kontext der Klangkunst gut aufgehoben, wobei das Hören meist auch unsere gesamte Wahrnehmung aktiviert, die ja eine multisensuelle Erfahrung per se ist.

Welche Phänomene und Begriffe gäbe es deiner Meinung nach im Feld der Klangkunst noch genauer zu beobachten, zu beschreiben, zu bearbeiten, die bislang von der Kunst-/Musikwissenschaft ausgespart geblieben sind?

Die Kunstwissenschaft widmet sich dem Gebiet der Klangkunst ja noch immer sehr zögerlich. Und die Musikwissenschaft arbeitet bis auf wenige Ausnahmen noch mit einem viel zu engen Vokabular. Da gibt es wissenschaftlich noch viel Entwicklungsspielraum. Positive Beispiele sind zum Beispiel die Arbeit von Linnea Semmerling über die Geschichte und die Bedingungen von Klangkunstausstellungen in kuratorischer Hinsicht, mit der sie Anfang 2020 in Maastricht promoviert wurde. Und das Projekt von Joshua Weitzel, der an einem Überblick über Klangkunst bzw. Klangarbeiten auf allen Kasseler »documenten« arbeitet, was bisher komplett unbeachtet war – übrigens an der Universität in Edinburgh.
In Deutschland, einem der Heimatländer der Klangkunst, wäre da noch viel zu tun. Und da nutzt es auch nichts, wenn sich musikwissenschaftliche Institute den Titel »Sound Studies« oder »Klangkunst« geben – es muss auch umgesetzt werden. Auch die Verbindung von künstlerischer Praxis als Erkenntnisweg und konventionellen wissenschaftlichen Methodiken, wie von Salomé Voegelin in London propagiert, ist in unseren kanonisch organisierten Fachbereichen noch nicht angekommen.
In meinem Forschungsprojekt »ARS« arbeiten wir ja im weitesten Sinne an Erscheinungsformen der kulturellen Praxis des Hörens in unserer Gesellschaft. Wenn ich nach zweieinhalb Jahren eine Aussage treffen kann, ist es diese: Die Themenvielfalt ist so überaus umfassend, dass wir ein ganzes Max-Planck-Institut mit fünfzig Mitarbeitern und mehr über Jahre mit dem Thema beschäftigen könnten. Nur leider gibt es dieses nicht – noch nicht! Mein Fazit: In der Beobachtung und Beschreibung von Phänomenen und Begriffen des Hörens und der Klangkunst stehen wir noch am Anfang!

Wieso ist der Raum, seltener der Ort für die Klangkunst so wichtig? 

Jeder Klang braucht Raum und Zeit. Für die Klangkunst ist der Raum, auch bildhauerisch gedacht, ein untrennbar mit ihr verbundener Kernparameter und deshalb noch essenzieller als die Zeitstruktur. Ich denke, der Raumbegriff ist sogar der zentrale ästhetische Formaspekt der Klangkunst. In dem von mir herausgegebenen Buch »Klangräume der Kunst« bin ich in meinem Essay »Klangräume – Denkräume« auf den Raum als gestaltbildendes Element der Klangkunst eingegangen und habe hierzu eine neue Systematik vorgeschlagen. 
Die Aspekte der Klangkunst lassen sich über die Intensität ihrer Verbindung zu einem Raum oder Ort definieren. Beginnt man mit der Überlegung einer Achse, auf deren linker Seite quasi die ortsungebundene Klangkunst steht und auf deren rechter Seite die unveränderlich mit einem Ort verbundene Klangkunst, so ergeben sich aus der Frage, wie die Dependenz des Kunstwerkes zu dem umgebenden Raum – auch mit seiner akustischen Identität – fixiert ist, folgende Gliederungspunkte: Klangkunst am Nicht-Ort / Klangkunst als Skulptur / Raumkomposition / Klangkunst als Raumklang / Klangkunst als Interaktion mit dem Raum / Klangkunst im öffentlichen Raum / Klangkunst Installation »in situ« / Klangkunst im virtuellen Raum. 
Diese Systematik lässt natürlich auch Mischformen und Zwischentöne zu und ermöglicht zusätzlich deren graduelle Ein- und Zuordnung. In deren Betrachtung zeigt sich, dass ein Kreis, bei dem sich Nicht-Ort und virtueller Ort wieder aufeinander beziehen, dies noch besser als eine lineare Darstellung veranschaulicht 

Sind die meisten Klangkunst-Arbeiten, wie zumeist behauptet, wirklich situationsbezogene? Gleiches oder Ähnliches begegnet uns in vielen, durchaus unterschiedlichen Räumen und Situationen...

Natürlich gibt es Arbeiten, deren Sinn sich nur aus der bestimmten Historie oder aus akustischen Gegebenheiten eines Ortes erschließt. Zum Beispiel Alvin Currans und Melissa Goulds 1998 realisierte Gemeinschaftsarbeit »Kaboom«, eine Land-Art- Installation für das Clark Art Institute, Williamstown (Massachusetts/USA), die nur dort möglich ist, weil das Museum so gebaut wurde, dass es genau außerhalb des Radius eines möglichen Atombombenangriffs auf die Ostküste der USA liegt. Oder meine Arbeit »traverse frequenz« von 2004 für den Innenraum der Deutzer Brücke in Köln, wo die akustischen Verhältnisse einfach einmalig sind.
Aber natürlich lassen sich die meisten Arbeiten auch auf andere Situationen übertragen. Ich selbst habe fast immer in Bezug auf einen konkreten Ort »in situ« gearbeitet, einfach, weil er mich inspiriert hat und ich es spannend fand, von dem Ort selbst zu lernen. Aber ein Kunstwerk muss mehr sein als die Bearbeitung eines Orts- oder Situationsbezugs. Der ist natürlich für Argumentationen von Kuratoren immer wunderbar und lässt Kunst als etwas Nachvollziehbares erscheinen. Und Kunst muss mehr sein als Kuratoren-Assistenz.

Was ist mit Arbeiten für den White Cube oder die Black Box, also eine Arbeit als Carte blanche? Das sind ja Orte ohne individuelle Atmosphäre.

Danke für diese Frage! Natürlich gibt es auch Formen der skulpturalen Klangkunst, auch Klangplastik genannt, die sich wunderbar für die Präsentation in Museen und Galerien eignen. Aber nochmals: Der Grund für die Existenz von Kunst darf ja nicht sein, wo oder wie sie ausgestellt wird. Das wäre auch für ein Bild keine gültige Frage. Die Kunst muss aus sich selbst heraus sprechen! Natürlich spielt der Kontext des Raumes eine Rolle, sogar eine wichtige, aber nur ein leerer Galerieraum ist ja kein Grund, Kunst zu schaffen.

Die akustischen Anteile der Klangkunst sind zeitlich kaum länger als bloß ein paar Minuten strukturiert, eben so, dass es gerade für einen Loop reicht. Selten nur ist die akustische Seite im Sinne eines eigenständigen Stücks durchkomponiert. Warum?

Da sind wir mittlerweile doch schon weiter. Viele Arbeiten sind interaktiv und/oder generativ. Sie wiederholen sich teils in hunderten von Jahren nicht. Ich selbst habe auch viel für thematische Ausstellungen in Museen gearbeitet, wo die durchschnittliche Verweildauer in einem Raum zwei bis fünf Minuten ist. Meine Wiederholungszeiten für Loops waren dann zwanzig bis dreißig Minuten. Oder ich habe zufallsgesteuerte Kombinationen verwendet, weil ich es nicht mag, wenn man hört, dass es nur eine Wiederholungsschleife wie bei einem Werbejingle gibt. Raum hat für mich auch etwas mit Zeit zu tun, im Sinne der Schaffung eines Erfahrungsraumes. 
Wir haben diesen Ansatz auch ganz bewusst für eine museale Raumgestaltung genutzt: In der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn gab es zur Jahrtausendwende die Ausstellung »Zeitenwende«. Im ersten Raum war die »Venus von Willendorf« ausgestellt, eine der ältesten bekannten Darstellungen einer Frau. Die kleine Skulptur ist aus Lehm und wurde einst zufällig gefunden. Es war damals eine Sensation, dass diese Figur außerhalb von Wien gezeigt werden durfte. Eine eigens erstellte »Kalaschnikow-resistente« Vitrine schützte die mit 150 Millionen Euro versicherte Statuette. Gemeinsam mit dem kreativen Gestalter der Ausstellung, Volker Geissler, wollten wir eine Art »Mona-Lisa-Phänomen« vermeiden, bei dem die Menschen einen schnellen Blick auf das Objekt werfen, ein Foto machen und dann weiterhuschen. Vielmehr wollten wir die Besucher zu einer Reflexion anregen, was dieses erste Abbild der Menschheit für jede und jeden persönlich bedeutet. Hierzu wurde ein runder dunkler Raum gebaut, für den ich eine sechskanalige Komposition erstellt habe. Am Rand standen Bänke zum Verweilen. Und tatsächlich haben viele Besucher die Klänge zum Anlass genommen, länger im Raum zu verweilen und eine Verbindung zu dem Objekt herzustellen. Dieser Raum wurde also eigens für meine Klang-Raum-Komposition gebaut – wie in der Folge andere Räume auch...

Dem Wort »Eigenzeit« begegnet man in der Klangkunst oft. Was meint »Eigenzeit« eigentlich?

Das Sensorium unseres Körpers ist fantastisch: Wir fühlen zum Beispiel Temperaturen, wir riechen Fäulnis, ertasten Oberflächen. Trotz all dieser wunderbaren Erfahrungen fehlt uns ein Organ für die Zeit. Deshalb können wir Zeit nicht unmittelbar erfahren. Die beste Definition ist noch, Zeit sei die Summe der von uns erfahrbaren Rhythmen. Ändern sich diese Rhythmen, ändert sich unser Zeitempfinden – und dies bei jedem von uns unterschiedlich, individuell. Somit ist jede Zeitwahrnehmung generell eine Eigenzeitwahrnehmung. Vielleicht gibt es deshalb ja so teure Uhren, weil sie uns das Gefühl geben (sollen), wir könnten die Zeit kontrollieren.
Auch in der Klangkunst können wir uns in Räume begeben, die unsere Zeitwahrnehmung beeinflussen, wenn wir uns darauf einlassen. Je mehr Kontrolle wir abgeben, desto mehr wird die Zeit zu »Eigenzeit«. Und manchmal geraten wir in einen Flow, bei dem wir die vergangene Zeit erst ermessen können, wenn wir wieder aus ihm auftauchen – eine Erfahrung, die mir beim Komponieren widerfährt und manchmal auch beim Erleben von Musik und Kunst. Sicherlich gibt es auch Formen der Spiritualität, in denen ein konkretes Erleben von Eigenzeit möglich ist: meiner Meinung nach eben durch das Loslassen von »eigen« zugunsten eines Jetzt und Hier.

Die Technik – Lautsprecher, Aufnahme- und Wiedergabetechnik, Soft- und Hardware – spielen eine zentrale Rolle in der Klangkunst. Spielt auch das Design, die Verpackung der jeweiligen Industrieprodukte eine Rolle, wie die Lautsprecher aussehen, die Verstärker etc.?

Das ist ein interessanter Aspekt. Einige Künstler verstecken die Technik komplett, anderen ist die Sichtbarkeit egal, wieder andere nutzen ein Kabelchaos als Statement und wieder andere nutzen die Verlegung von Kabeln so, dass es ein eigenständiger gestalterischer Aspekt der Arbeit ist. 

Ich habe teilweise Lautsprecher mit spezieller Richtcharakteristik selbst gebaut und mag die Ästhetik von reinen Lautsprecherchassis. Schicke Verstärker, Röhrentempel oder auch Highend-Produkte interessieren mich eigentlich weniger. Wichtiger ist mir, wie sich der Klang im Raum ausbreitet und dort resoniert. Und das zu realisieren ist oft, wie unter anderem der Klangkünstler Andreas Bosshard belegt, auch mit relativ einfachen technischen Mitteln möglich. Besonders beeindruckt hat mich in diesem Kontext die Idee von Luigi Nono, der vom Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung des SWR in Freiburg eigens Lautsprecherhalterungen hat anfertigen lassen, so dass er die Beschallungslautsprecher für Raumklangkompositionen in allen Richtungen schwenken konnte. So hat er in Avignon die Lautsprecher teilweise nach schräg oben gegen die Wand abstrahlen lassen, einfach weil es besser im Raum klang. Die wichtigste Technik ist halt unser Hörsinn!

Viele Arbeiten der Klangkunst sind bemerkenswert schön, entsprechen Vorstellungen des Designs. Selten sind sie sowohl in Bezug auf den Klang als auch in Bezug auf die visuelle Gestaltung ruppig, schroff, widerborstig, kantig, zeigen kaum Gebrauchsspuren, sondern präsentieren sich meist wohlfeil, gesetzt schön, hübsch, mithin harmlos...

Der visuellen Komponente meiner Arbeiten widme ich mich mit großer Leidenschaft und kann tagelang darüber nachdenken und ausprobieren, ob der Winkel der rostigen Keile meiner Installation »liquid borders« 90, 83 oder 86 Grad umspannen soll. Auch sind die Abstände der Keile voneinander in tagelangem Ausprobieren jeweils dem Ort angepasst. Ich gebe zu, dass eine gewisse Stimmigkeit für mich wichtig ist. Diese ist aber dem Eindruck der Arbeit selbst im Raum geschuldet und nicht etwa einem schönen Design. 

Es ist aber schon richtig, dass Klangkunst oft sehr stark ausgestaltet ist und selten den Eindruck erweckt, hingeworfen oder geschludert zu sein, vielleicht auch, weil Klangkünstler sich weniger als Künstlerfürsten oder Spontangenies darstellen wollen. Dagegen steht auch, dass Klangkunst auf vielen Ebenen der ästhetischen und kompositorischen Gestaltung bedarf und oft auch mit mehr Aufwand verbunden ist. Klänge müssen aufgenommen, komponiert, mehrkanalig abgespielt werden, ein Lautsprechersetup geplant und realisiert werden und die notwendige Technik muss laufen. Das geht eben nicht einfach mal so spontan. Das bedeutet aber nicht, dass es nicht auch intuitive Anteile gibt.
Nur schöne Klangkunst interessiert mich allerdings auch nicht. Aber vielleicht können wir mit den Klängen die Menschen eh besser und direkter anrühren und brauchen deshalb auch keine provozierenden Gesten? Auf jeden Fall ist das eine Frage, über die sich weiteres Nachdenken lohnt.

Wie müsste, sollte die Gesellschaft mit der Archivierung, mit der Bestandsicherung von Klangkunst umgehen? Sollte es ein eigenes Museum, ein Zentrum der Klangkunst mit vielen Wechselausstellungen zur Thematik geben?

Bereits im Jahr 2003 habe ich an der Kunsthochschule für Medien Köln (KHM) ein Symposium veranstaltet mit dem Titel »Das (un)mögliche Museum der Klänge«. Fast 75 Experten haben dort diskutiert. Bei einem herkömmlichen Museumsbau ist die Herausforderung, dass jeder Klang sich im Raum ausbreitet und diesen Raum auch als Erfahrungsraum braucht. In »normalen« Museen ist es keine Schwierigkeit, Bilder nebeneinander zu hängen – das mag ästhetisch passen oder nicht –, aber bei Klang gibt es natürlich ganz spezifische physikalische Aspekte. Man kann nicht einfach mal ein Stück Stoff hinhängen und ernsthaft der Auffassung sein, das würde akustisch abschotten. Hier denken die meisten Kuratoren noch zu sehr visuell oder meinen, man könne das Problem der akustischen Überlagerung durch Kopfhörer lösen, was für eine raumbezogene Klangkunst sicher auch nicht sinnvoll ist. Tatsächlich hätte ein Klangkunstmuseum also noch ganz andere Herausforderungen zu meistern als etwa ein Lichtkunstmuseum.
Es braucht vom akustisch abgeschotteten White Cube über eine Black Box einfach zahlreiche Räume mit einem gewissen Abstand voneinander. Auch eine Konstruktion von mehreren »Klangräumen« in einem Park ähnlich wie auf der Museumsinsel Hombroich wäre optimal. Da wäre ich gerne dabei. Mal sehen, was die Zukunft bringt. 


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