Frei von und zu
RedeAstrid Schmeling erhält die Ehrennadel der Fachgruppe E-Musik im Komponist:innenverband
Liebe Freundinnen und Freunde der neuen Musik, liebe Mitglieder des Komponist:innenverbands, vor allem liebe Astrid Schmeling, ich gratuliere Dir ganz herzlich zur Verleihung der Ehrennadel der Fachgruppe E-Musik (FEM) im Komponist:innenverband! Und ich beglückwünsche zu dieser guten Entscheidung auch den Verband und seine Vorsitzenden Johannes K. Hildebrandt, Kathrin Denner und Alexander Strauch sowie die von ihnen einberufene Jury. Warum es richtig und angemessen ist, gerade diese Flötistin, Gründerin, Leiterin, Organisatorin, Netzwerkerin, Pädagogin auszuzeichnen, soll diese kleine Laudatio begründen.
Einstweilen sorgen in Deutschland noch etliche Institutionen dafür, dass neue Musik komponiert, einstudiert, aufgeführt, gehört, besprochen, mitgeschnitten, gesendet und auf CD herausgebracht oder im Internet gestreamt werden kann. Es gibt viele Ensembles, Spielstätten, Veranstalter, Rundfunkanstalten, Verlage, Fachzeitschriften, Zeitungen, Kulturämter, Stiftungen, Vereine, Verbände, Hochschulen, Schulen, Musikschulen … In allen diesen Einrichtungen arbeiten musikliebende, engagierte, kreative Menschen. Sofern diese fest angestellt sind, erhalten sie gute Gehälter, klare Perspektiven für ihre berufliche und private Lebensplanung sowie irgendwann auch eine ordentliche Rente. Das Ansehen, das diese Angestellten genießen, gilt ihren persönlichen Verdiensten, Initiativen und Charaktereigenschaften, gleichzeitig aber auch – vielleicht sogar noch mehr – den Positionen, auf denen sie als Funktionsträger entscheiden, wer, wann und wieviel von den für das Entstehen von neuer Musik benötigten finanziellen, organisatorischen, personellen und räumlichen Mittel erhält. Ein Teil des Respekts gebührt also nicht den Personen selbst, sondern den Institutionen, deren Aufgaben diese erfüllen.
Daneben gibt es auch Menschen, die nicht für eine etablierte Institution arbeiten, sondern die selbst eine oder gar mehrere Initiativen zum Wohl der neuen Musik gegründet, etabliert und über viele Jahre unterhalten haben. Astrid Schmeling ist eine von diesen besonders aktiven Musiker:innen. Weitgehend ohne institutionelle Verankerung, ohne Unterstützung durch eine Organisation und ohne finanzielle Absicherung hat sie – zusammen mit ebenso freiberuflich aktiven Kolleg:innen – selber ein Ensemble gegründet, selber eine Konzertreihe aufgebaut, eine Kompositionsklasse ins Leben gerufen und viele Male durchgeführt, eine Spielstätte bekannt gemacht, ein Netzwerk aufgebaut, einen Förderverein initiiert, und all das über viele Jahre am Leben gehalten. All das erforderte viel Zeit, Energie, Geduld, Hartnäckigkeit, Gestaltungswille, Arbeits- und Kraftaufwand. Und all das wurde von keiner Institution als Arbeitspensum definiert, sondern selbst erdacht, sich selbst auferlegt und selbst auf den Weg gebracht. Frei von institutioneller Einbindung war Astrid Schmeling dadurch frei, eben all das zu tun, was sie getan hat. Das macht ihre Leistungen umso bemerkenswerter und preiswürdiger.
Astrid Schmeling studierte an der Musikhochschule Freiburg im Breisgau Flöte bei Aurèle Nicolet und Klavier bei Wilhelm Behrens. Bis 1994 leitete sie eine Flötenklasse am Hamburger Konservatorium. Von 2010 bis 2013 hatte sie einen Lehrauftrag für Komposition an der Leuphana Universität Lüneburg. Anschließend unterrichtete sie Kompositionspädagogik an der Fachhochschule Osnabrück. Mit ihrem Lebenspartner, dem Schlagzeuger und Komponisten Matthias Kaul, sowie dem Gitarristen Michael Schröder gründete sie 1983 das Ensemble L’ART POUR L’ART, das im In- und Ausland gastiert, zahlreiche Ur- und Erstaufführungen realisiert, viele CDs einspielt und bis heute mit vielen Komponist:innen unserer Zeit zusammenarbeitet. Der Name der Formation bezieht sich auf den Ästhetizismus um 1900, der oft vorschnell mit dekadenter Überfeinerung und einem allen weltlichen Niederungen entrückten Wolkenkuckucksheim gleichgesetzt wird. Nach einer Phase sowohl der politisch engagierten als auch der neoexpressiven und zum Teil neotonalen Musik der 1970er Jahre unterstrich das niedersächsische Ensemble mit seinem Namen vor allem die Bedeutung von Musik als einer autonomen Form künstlerischer Äußerung, die ohne außermusikalische Aufladung durch Programmatik oder Proklamationen von soziopolitischem Engagement und gesellschaftlicher Relevanz auskommt. Stattdessen geht es diesen Instrumentalist:innen um Musik, die sich durch ihre materiale und strukturelle Eigengesetzlichkeit von den im Alltag vorherrschenden Arten der Information, Kommunikation und Rezeption unterscheidet und genau deswegen unserer streng funktional durchgetakteten und durchkapitalisierten Gesellschaft die Möglichkeit bietet, nicht nur Musik neu und anders zu hören, sondern überhaupt die eigene Selbst- und Weltwahrnehmung kritisch zu befragen und gegebenenfalls zu verändern. Und genau darin, nämlich durch sich selbst statt durch beliebig anheftbare zeitpolitisch wechselnde Etiketten, beweist diese Musik dann auch ihre gesellschaftliche Relevanz.
Zum Profil von L’ART POUR L’ART gehören Portraits von und Gesprächskonzerte mit den mitwirkenden Komponist:innen, Präsentationen von Musik aus verschiedenen Ländern, Erweiterungen des Repertoires um selten gespielte Werke, die Entdeckung und Förderung junger Komponist:innen, inszenierte Konzerte und Musiktheaterprojekte sowie Veranstaltungen im Freien und im öffentlichen Raum. Hinzu kommen visuelle Gestaltungsmöglichkeiten in Zusammenarbeit mit Schauspieler:innen, Sänger:innen und Regisseur:innen bis hin zu Instrumentalem Theater und Visueller Musik. Zudem verfügt das Ensemble über langjährige Erfahrung mit Improvisation sowie variablen und offenen Formmodellen, etwa von Vinko Globokar, Malcolm Goldstein, Frederic Rzewski, Karlheinz Stockhausen oder Christian Wolff. Gemeinsam mit Matthias Kaul leitete Astrid Schmeling die Konzertreihe „ZuHören“ im Alten Forsthaus Habichtshorst in Winsen an der Luhe, zwanzig Kilometer südöstlich von Hamburg. Zum vierzigjährigen Bestehen des Ensembles 2023 führten die von Neo Hülcker und Stefan Troschka gestalteten „Passagen“ mit verschiedenen Installationen und Performances durch die Arbeits- und Konzertstätte des Ensembles. Wie dieses Wandelkonzert sind auch andere Aufführungen von Astrid Schmeling und L’ART POUR L’ART in Video-Dokumentationen auf der Internetplattform Vimeo zu erleben.
1999 gründeten Astrid Schmeling und Matthias Kaul die Kompositionsklasse L’ART POUR L’ART für Kinder und Jugendliche. Nach dem Tod ihres Mannes 2020 setzte Schmeling diese zeitintensiven Kurse alleine fort. Ein halbes Jahr lang nehmen Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 7 und 19 Jahren daran teil. Zunächst werden sie dafür sensibilisiert, was sie umgibt und bewegt und wie sie das möglicherweise – in welcher Form und mit welchen Mitteln oder Instrumenten auch immer – musikalisch artikulieren können. Die jungen Teilnehmer:innen lernen dabei die klanglichen Möglichkeiten und spieltechnischen Beschränkungen von Instrumenten, Materialien und Objekten kennen. Zentral ist dabei – laut Homepage des Ensembles – der Grundsatz: „Es gibt kein Richtig und Falsch im Vorwege – richtig ist das, was die Absicht verdeutlicht, falsch ist, was sie verhindert.“ Ausgangspunkt ist also eine größtmögliche Offenheit für unterschiedlichste Erfahrungen, Ideen, Mittel und Wege. Erst wenn eine Idee gefunden, eine Absicht artikuliert und ein Ziel entwickelt wurde, lassen sich die dazu nötigen Strategien, Objekte, Instrumente und Formen als richtig oder falsch bewerten und entsprechend wählen oder verwerfen. Die Kompositionsklassen vermitteln so nicht nur eindimensional zweckorientiert die Erfindung von Musik, sondern ungleich breiter und existentieller die für alle Lebensbereiche und auch das spätere Berufs- und Privatleben unerlässliche Erfahrung, nicht einfach überkommene Denk- und Handlungsmuster zu übernehmen, sondern erst einmal selber Urteilskriterien zu entwickeln, um dann auf deren Grundlage eigene Entscheidungen und möglicherweise die Zukunft maßgeblich prägende Weichenstellungen zu treffen.
Die Vorgehens- und Wirkungsweisen der Kompositionsklassen lassen sich beschreiben. Die Ergebnisse allerdings muss man erleben, und sei es auch nur auf CD. Die Edition „Haltbar gemacht“ veröffentlichte Aufnahmen von Kompositionen aus der Kompositionsklasse L’ART POUR L’ART, die im großen Sendesaal des Hessischen Rundfunks eingespielt wurden. Statt in der üblichen Kunststoff- oder Papphülle erschien diese originelle CD samt DVD 2011 in einer wiederverschließbaren Frischhaltefolie. Sie erhielt 2011 den „junge ohren preis“ sowie 2012 den „Vierteljahrespreis“ und den „Jahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik“ sowie den „Echo Klassik“. Oft ist man von „Vermittlungsprojekten“ neuer Musik für Kinder und Jugendliche enttäuscht, weil man merkt, dass die Mitwirkenden unter ihren Möglichkeiten bleiben und sich gegenseitig auf den einfachsten gemeinsamen Nenner herunterziehen, statt sich durch das, was alle Einzelnen für sich am besten können, gegenseitig zu heben. Sehr begeistert waren die Teilnehmenden und das Publikum dagegen vom Kompositionskurs „Fundsache: Musik!“ für Kinder und Jugendliche ab sechs Jahren, den Astrid Schmeling an drei Tagen bei der Frühjahrstagung des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt 2023 durchführte und dessen Ergebnisse am Abschlusstag im Konzertsaal der Akademie für Tonkunst präsentiert wurden. Die Kinder agierten gemäß ihren individuellen Fähigkeiten und Vorlieben mit Instrumenten oder sonstigen tönenden Objekten sichtbar begeistert und hoch konzentriert. Nach der Grundidee eines Spaziergangs bewegten sie sich nach jeweils anderen Gesetzmäßigkeiten mit genau abgezählten Schritten, Tempi und darauf basierenden Rhythmen und Einsatzfolgen auf vorgegebenen Wegen zwischen den Stuhlreihen des Publikums. Die verschiedenen Abläufe wurden so nach und nach erkennbar und überlagerten sich zugleich zu einem über zwanzig Minuten lang spannenden, weil ständig neue Konstellationen bildenden Gesamtverlauf. Die Gewissenhaftigkeit und Präzision, mit der die Kinder ihre Aktionen ausführten, verriet viel von der Intensität, mit der Astrid Schmeling zuvor mit den Kindern gearbeitet hatte. Und diese Intensität vermittelte sich dann unwillkürlich auch dem Publikum.
Für alles, was Astrid Schmeling während der vergangenen vier Jahrzehnte geleistet hat, wird sie heute mit der FEM-Ehrennadel ausgezeichnet. Zu Recht! Ich gratuliere Astrid Schmeling hierzu ganz herzlich und beglückwünsche zu dieser Wahl nochmals ausdrücklich auch den Komponist:innenverband sowie die gesamte Szene der neuen Musik, die Astrid Schmeling durch ihre vielen Initiativen und Arbeiten so sehr bereichert hat und nach wie vor beschenkt. Liebe Astrid Schmeling, herzlichen Glückwunsch, vielen Dank für all Deine Initiativen und alles Gute für die Zukunft!
Donaueschingen, den 18. Oktober 2024