Ein Brückenschlag zur arabischen Kultur
HervorgeholtAnmerkungen zum Spätwerk von Klaus Huber
Brasilianische Liedermacherinnen und mittelalterliche Mystik, Prison Songs amerikanischer Schwarzer und koreanische Instrumente, Vokalpolyphonie der Renaissance und arabische Musik: Klaus Huber hat im Laufe der Jahre vielfältige Anregungen in seiner Musik verarbeitet und sich damit eine geistige Offenheit gegenüber anderen Kulturen und Denkweisen erworben, die für die neue Musik europäischer Prägung keineswegs selbstverständlich ist. Nie erscheinen diese Einflüsse bei Huber als vordergründige Zitate oder gar Anleihen, sondern sie werden strukturell verarbeitet. Die Lektüre fremder musikalischer Texte geht über in eigene schöpferische Tätigkeit.
Antrieb dieser Hinwendung zum anderen ist das latente Bedürfnis, auszubrechen aus der Enge, der Blindheit des falschen Daseins. „Umkehr“ heißt der moralische Imperativ, der aus vielen Werken von Klaus Huber spricht: Umkehr zum „wahren Leben“, geleitet vom Impuls der christlichen Nächstenliebe und Gerechtigkeit, mit allen politischen und sozialen Implikationen. Damit einher geht die Kritik an den anerzogenen Denkmustern, die uns alle prägen. Musikalisch heißt das: Kritik am überlieferten Werkbegriff, am Paradigma des „l’art pour l’art“, und im weiteren Sinn: am eurozentrischen Weltbild.
An der Schwelle zum siebzigsten Lebensjahr ist Huber wieder auf der Suche nach neuen Perspektiven. Waren die Werke der sechziger und siebziger Jahre vor allem durch seine Auseinandersetzung mit dem Serialismus und dessen Folgen geprägt, so sucht er heute nach Wegen, aus der engen Ordnung des temperierten Systems auszubrechen und damit den gesicherten Boden unserer tonalen Tradition überhaupt zu verlassen. Er komponiert mit Dritteltönen und befaßt sich mit außereuropäischen Tonsystemen – mit fernöstlichen und mit dem arabischen. Auch seiner alten Liebe, der konstruktiv so vielfältigen Musik vor 1600, wendet er sich heute wieder vermehrt zu.
Der Altersstil, der in Hubers Schaffen nun langsam Konturen annimmt, zeichnet sich durch eine enorme Integrationskraft aus, die Entwicklungslinien europäischer Musikgeschichte und Elemente der großen Weltkulturen unter dem Signum einer konsequent modernen Musiksprache zusammenfaßt.
Die Fähigkeit zum Wechsel der Wahrnehmungsperspektiven schlägt sich im einzelnen Werk als ein Prozeß der mehrfachen Spiegelung nieder – als ein Oszillieren zwischen zwei Polen, zwischen Eigenem und Fremdem. Das ist nicht nur im musikalischen Material zu beobachten, sondern auch in den der Komposition zugrundeliegenden Texten. Übersetzung und Rückübersetzung – in der übertragenen und der realen Bedeutung des Worts – bedingen einander und schaffen ein neues Drittes.
So in der Komposition „Agnus Dei cum Recordatione“ für vier Vokalsolisten und drei Instrumente, uraufgeführt am Karfreitag 1992 in der Sainte-Chapelle in Paris. Zwei Textebenen sind in dem Stück ineinander verzahnt: die Worte des „Agnus Die“ aus der katholischen Messe und – als dazwischengeschobene „Erinnerungen“ – Äußerungen, die dem Renaissancekomponisten Johannes Ockeghem in den Mund gelegt werden – ein innerer Monolog Ockeghems auf dem Totenbett über die neuen Zeiten, an denen er nicht mehr teilhaben wird. Diesen Text fand Huber beim Schriftsteller und Komponisten Gösta Neuwirth. Huber, der zuerst annahm, es handle sich um eine Montage von Übersetzungen authentischer Texte aus der Renaissance, bearbeitete sie seinerseits noch einmal. Und um zu einer Art Authentizität zweiten Grades zu kommen, ließ er sie vor der Vertonung von einem Spezialisten ins Altfranzösische „zurückübertragen“. Er sei, sagt Huber, erst im Nachhinein von Neuwirth aufgeklärt worden, daß es sich keineswegs um alte Texte handelte, die dieser hier Ockeghem in den Mund gelegt hatte, sondern um Zitate aus dem zwanzigsten Jahrhundert von Kafka bis Borges. Durch die Rückübertragung ins Altfranzösische, die keine war, wuchs ihnen nun plötzlich die Autorität eines historischen Originals zu. Dieser Eindruck wird verstärkt durch die strukturellen Bezüge zur Musik Ockeghems, die in Hubers Komposition aufscheinen. Ein Verwirrspiel um Original und Fälschung, in dem der Übersetzung die Rolle zukommt, historische Fiktion wie ästhetische Realität überhaupt erst entstehen zu lassen.
Der Gefahr, in alten Traditionen oder fremden Kulturen nur einen exotischen Reiz zu suchen, der die eigene Musiksprache koloristisch veredeln soll, ist Huber nie erlegen. Er nähert sich ihnen mit Achtung und Verantwortung und beruft sich dabei auf die französische Philosophin und Sozialistin Simone Weil (1909–1943), deren Texte er in seiner Komposition „La terre des hommes“ vertont hat Man könnte auch sagen: mit Liebe. Simone Weil sagte einmal: „Der Andere ist auch der Fremde“, und, frei zitiert: „Man billigt einem Menschen immer nur dann eine volle Existenz zu, wenn man ihn liebt.“ Das ist radikal gedacht. Und mit einer fremden Kultur ist es ein wenig wie mit einem fremden Menschen. Man sollte sie lieben und achten.
Huber solidarisiert sich mit jenen Kulturen, denen aus europäischer Sicht gerne mit einer gewissen Herablassung begegnet wird. Er ergreift Partei für die Unterlegenen, Gedemütigten. Das war so in seinem 1983 in Donaueschingen uraufgeführten Oratorium „Erniedrigt – geknechtet – verlassen – verachtet ... “ mit Texten unter anderen von Ernesto Cardenal, Carolina Maria de Jesus und George Jackson; darin machte er sich zum Anwalt der Armen Amerikas und brachte deren Klagen und Hoffnungen mit seinen musikalischen Mitteln einem europäischen Publikum zu Gehör.
In den beiden Werken, die Huber gegenwärtig für Radio France und für Witten schreibt, setzt er sich mit dem arabischen Tonsystem und dem aktuellen arabischen Denken auseinander. Mit diesem tun sich die Europäer bekanntlich nicht erst seit dem Golfkrieg reichlich schwer. Weitherum verdrängt wird zum Beispiel die historische Tatsache, daß es vor allem die Araber im Mittelmeerraum waren, die im „finsteren“ christlichen Mittelalter das Erbe der klassischen Antike überlieferten; vergessen wird, daß die arabische Kultur in Spanien jahrhundertelang ein Hort des Humanismus und der klassischen Gelehrsamkeit war, bis sie in der Reconquista von den Europäern im Zeichen des Kreuzes barbarisch vernichtet wurde.
Mit diesen historischen Reminiszenzen im Kopf und im Herzen arbeitet Huber an diesen Werken, in denen er einen Brückenschlag zum Orient versucht. Das Unternehmen trägt alle Merkmale einer geistigen Abenteuerfahrt. Nicht nur, was die „Kompatibilität“ zweier so verschieden strukturierter Tonsysteme angeht. (Das europäische Tonsystem teilt die Oktav in zwölf temperierte Halbtöne, das arabische jedoch in dreiundfünfzig „Comata“, aus denen insgesamt siebzehn Stufen gebildet werden, welche grundlegend für alle denkbaren Modi – Maquamat – sind. Der arabische Quartenzirkel umfaßt deshalb siebzehn Transpositionen.) Ungewöhnlich ist auch, daß das Stück für Witten – Titel: „Die Erde bewegt sich auf den Hörnern eines Ochsen“ (nach einem persischen Sprichwort) – für vier arabische und zwei europäische Solisten geschrieben ist. Und – dritte Herausforderung – schließlich hat Huber diesem Werk einen Text des iranischen Schriftstellers Mahmud Dulatabadi zugrundelegt, der die Problematik einer Kultur schildert, deren traditionelle Werte zwischen religiösem Fundamentalismus und westlichem Kommerzdenken aufgerieben zu werden drohen.
Um Berührungspunkte zwischen den beiden Kulturen zu finden, versucht Huber einerseits den Originalklang der Sprache zu erhalten, andererseits konfrontiert er ihn gleichzeitig mit seiner Spiegelung im Medium einer anderen Sprache. Dulatabadis Worte, auf Band aufgenommen und zum Teil elektronisch verarbeitet, sind Bestandteil der Komposition; Sprachklang und Sprachduktus des persischen Originals werden überlagert von Ausschnitten, die ins Arabische, Französische und Deutsche übersetzt sind.
Auf der musikalischen Ebene findet eine ähnliche Durchdringung statt. Drei der vier arabischen Musiker sind Instrumentalisten; sie spielen Quanoun (ein Vorbild für das Spinett beziehungsweise Cembalo), Nay (Flöte) und Riqq (Handtrommel). Der vierte ist ein syrischer Sufi-Sänger und Koranrezitator. Mit Gitarre und Viola setzt Huber zwei europäische Instrumente ein, die aus der arabischen Hochkultur zu uns gekommen sind und deren Klangcharakter sich deshalb dem der arabischen Instrumente angleicht. Da die arabische Musik nicht notiert, sondern mündlich tradiert wird, verbot sich die Kommunikation über eine Partitur. Huber ging anders vor: er holte die Musiker ins Aufnahmestudio und ließ sie improvisieren. Im Konzert wird dann das aufgenommene Material, vom Komponisten verarbeitet, zum Live-Klang der Musiker zugespielt. An die Stelle der abstrakten Notationsvorgabe tritt somit der lebendige Kontakt zu den anderen Menschen.
Über die Tragfähigkeit einer solchen Synthese entscheidet nicht zuletzt die Fähigkeit zur spontanen Verständigung. Dabei kann Huber nicht Arabisch, die andern verstehen kein Deutsch. (Der Schlagzeuger, ein Ägypter aus Paris, sprach immerhin Französisch.) Sonst funktionierte die Kommunikation vorwiegend auf der nichtverbalen Ebene: durch Gesten, Blicke, Intuition. Huber erinnert sich, daß der Sufi-Sänger in einer Aufnahmepause offensichtlich mit den andern Musikern über ihn sprach. Später erfuhr er vom Schlagzeuger, was der Sufi, nur wenig jünger als Huber, gesagt hatte: „Der erinnert mich an meinen Großvater. Wie ich als Kind vorsingen lernte, hörte mein Großvater zu.“
Diese Aussage hat Huber sehr beeindruckt: „Die beste Übersetzung ist doch die, wenn man sich in irgendeiner Weise betroffen fühlt. Selbst wenn ich jetzt bei weitem nicht der Großvater dieses Sufi bin: daß ihm so etwas durch den Kopf geht, weil ich ihm mit Vertrauen und äußerster Sensibilität und auch sehr kritisch zuhöre, ist eigentlich schon das Wunderbarste, was passieren kann. Das kann das komponierte Stück nicht mehr einholen. Ich bin dieser Situation jetzt ausgeliefert. Es hat mich gepackt, und ob ich nun gewinne oder verliere, spielt keine Rolle. Ich kann nicht mehr zurück.“