Paradise Lost
BerichtDie Ruhrtriennale 2024 unter dem neuen Intendanten Ivo Van Hove
Anspruch und Wirklichkeit klaffen oft auseinander, auch bei Musikfestivals. Künstlerische Leitungen und Marketingabteilungen verkünden Slogans, die das Programm nicht einlöst. Bei der Ruhrtriennale stellt der belgische Theater- und Filmregisseur Ivo Van Hove seine Intendanz der Jahre 2024 bis 2026 unter das Motto „Longing for Tomorrow – Sehnsucht nach Morgen“. Präsentiert wurde in den Turbinenhallen, Salzlagern, Mischanlagen und Kraftzentralen der einstigen Kohle- und Stahlindustrie in Bochum, Duisburg und Essen dann jedoch vor allem Gestriges, Bekanntes und Populäres.
Gestern statt Morgen
Die Ruhrtriennale erfährt durch ihre alle drei Jahre wechselnde Leitung immer wieder andere Ausrichtungen. Das seit 2002 bestehende Mehrspartenfestival für Schauspiel, Film, Installation, Literatur, Tanz, Konzert und Musiktheater bot stets auch markante Aufführungen neuer Musik. Zudem richten sich besondere Veranstaltungen, Workshops und Talks für Schulen, Familien, Kinder, Jugendliche und Studierende an junges Publikum von heute und morgen. Nun jedoch wird das Musikprogramm von Bekanntem dominiert, freilich neu verpackt als Remix, Crossover, Fusion, stil- und spartenübergreifendem Eklektizismus. Nach den Vorgängerinnen Stefanie Carp und Barbara Frey amtiert mit dem neuen Intendanten Ivo Van Hove abermals ein Schauspielregisseur. Musik und speziell neue Musik scheint er wenig zu kennen und schätzen. Umso nötiger hätte er Beratung durch das künstlerische Programmkomitee und den dort mitwirkenden Komponisten Tomasz Prasqual, dem er jedoch noch während der ersten Tage des Festivals kurzerhand Hausverbot erteilte und fristlos kündigte. Stattdessen bevorzugt dieser Intendant publikumswirksame Genres und Stars aus Film, Pop und Showbiz. Die Ruhrtriennale lässt dadurch eben das vermissen, was das Festival vollmundig für sich reklamiert: „Sehnsucht nach Morgen“. Dieses Verlangen aber bräuchte mehr visionäre Experimentierfreude, Abenteuerlust, Risikobereitschaft statt bloßer Lippenbekenntnisse.
Der Pianist und Komponist Nils Frahm macht minimalistisch-popaffine Softklassik, und ein Minimalist ist auch der 1990 verstorbene Julius Eastman, der seit seiner Wiederentdeckung bei der Berliner MaerzMusik 2018 vielerorts aufgeführt und nun auch in der neuen Konzertreihe „Erased Music“ in Bochum porträtiert wurde. Das Chorwerk Ruhr sang Olivier Messiaens „Cinq rechants“ und die virtuos durch verschiedene Vokaltechniken und Genres changierende neotonale „Partita“ der 1982 geborenen US-Amerikanerin Caroline Shaw. Ansonsten gab es Musik von Sinti und Roma, georgischen Chorgesang, ukrainischen Rap und einen von Georgina Philip alias Mother Leo veranstalten „Ballroom“ mit und für diskriminierte Personen. Mehrere Produktionen ähnelten Revuen: The Faggots verquirlten Barockmusik mit Rave und Broadway-Musical; Regieeinfälle von Eline Arbo und Elektronik des niederländischen Theater- und Filmmusikkomponisten Thijs van Vuure drängelten sich in Edvard Griegs Liederzyklus „Haugtussa“; und aus Eugène Labiches Verwechslungskomödie „Ein Florentinerhut“ (1851) machte Herbert Fritsch inklusive sechzehn neuer Songs von Herbert Grönemeyer die temporeiche Slapstickfolge „Pferd frisst Hut“, die 2023 am Theater Basel Premiere hatte und nun im Landschaftspark Duisburg-Nord erneut gezeigt wurde.
PJ Harvey und Sandra Hüller
Eröffnet wurde die Ruhrtriennale in der Jahrhunderthalle Bochum mit „I Want Absolute Beauty“ nach Idee und in Regie von Intendant Van Hove. Statt wie annonciert eine „Musiktheater-Uraufführung“ bot der Abend eine inszenierte Cover Show von Popsongs der Alternativ-Rockerin PJ Harvey. Anstelle der 1969 geborenen britischen Songwriterin sang Sandra Hüller elektronisch verstärkt mit erstaunlich wandelbarer und ausstrahlungsstarker Stimme. Die 1978 im thüringischen Suhl geborene Schauspielerin agierte nicht nüchtern und unterkühlt wie in ihren letzten großen Filmrollen, sondern körperbetont und exzessiv. Sie hauchte, säuselte, rasselte, röhrte, jauchzte, kreischte und stürzte sich ins Getümmel der Tanzcompagnie (La)Horde aus Marseille. Die Gruppe rannte, wälzte, schlug und raufte sich, beschmierte sich mit Erde und Wasser, griff sich gegenseitig in Mund und Schritt, posierte mit sexuellen Gesten und spielte Soldaten beim Marschieren, Salutieren, Laden und Abfeuern von Maschinengewehren und Panzerfäusten.
PJ Harveys Songs mixen Pop, Blues, Rock, Punk. Sie handeln von Frausein, Mutterschaft, Freiheitsdrang, Begierden, Lüsten, Ängsten, Liebe, Prostitution, Misshandlung, Hass, Krieg, Gewalt. Eine raumgreifende Videoprojektion über der vierköpfigen Band zeigte große Close-ups der Performenden und Überblendungen mit Kreidefelsen, Grabkreuzen, Wiesen, Straßenschluchten, Brandungswellen und einem Tunnel. Zu den Schlussversen „I have pulled myself clear“ und „Gleiten wir dahin / nehmen´s, wie´s kommt“ flog der Kamerablick über eine Steilküste hinweg aufs offene Meer. Christopher Ashs Videos waren für sich genommen eindrücklich, machten die aktionistisch wirkende Choreografie und die von Track 1 bis 26 durchzappte Playlist jedoch nicht zu einer packenden Geschichte mit lebendigen Figuren, erkennbarer Thematik und Dramaturgie. Die im Titel geforderte „Absolute Beauty“ war jedoch nur aufgesetzt und gab keine Anstöße zum Nachdenken. Die Aufführung blieb ein harmloser Spaß aus guter Laune und wahlweise aggressiver oder vitalistischer Energie.
Bruckner und Björk
Für die Konzertinstallation „Abendzauber“ verband der polnische Regisseur Krystian Lada weltliche Männerchöre von Anton Bruckner mit für Frauenchor arrangierten Songs von Björk. Der aktuelle Direktor des künstlerischen Programms der Ruhrtriennale hatte bereits 2015 am Brüsseler Opernhaus La Monnaie auf der Grundlage von Björks Album „Madúlla“ ein Musiktheater kreiert. Nun ließ er das Publikum per Lautsprecher mit fiktiven Worten einstiger Romantiker begrüßen: „Diese Installation gibt Ihnen die Gelegenheit, die Natur so zu erleben, wie wir sie erlebt haben, bevor wir sie verschwinden ließen.“ Vom Dach der Mischanlage der Zeche Zollverein in Essen gelangte man vorbei an Caspar David Friedrichs auf Postkartenformat geschrumpftem Bild „Zwei Männer am Meer“ (1817) in die oberste Etage. Dort intonierten die Herren des Chorwerk Ruhr mit echten und aufgeklebten Schnauzbärten in feierlich schwarzer Bergmannskapellentracht Bruckners Chöre auf Naturlyrik mit „munterem Bächlein“, „Schatten leichten Flieders“, „Sternschnuppen“, „Trösterin Musik“ und dem titelgebenden „Abendzauber“. Die Sänger umstanden dazu einen großen Eisblock wie einen Reliquienschrein mit darin eingefrorenen Wurzeln, Zweigen, Blättern, Blüten. Der direkte Kontakt mit der konservierten Natur war so verwehrt. Und die Berührung des Eises taugte allenfalls zur Abkühlung der durch allzu große musikalische Inbrunst erhitzten Schläfen.
Unter dumpfem Grollen stieg das Publikum dann in die zwölf riesigen Silos hinab, in denen einst Schüttgut zur Verkoksung gebunkert und durch trichterartige Ausgänge gemischt wurde. Durch die Fülltore oben und die Luken unten mixte der hallige Betonklotz nun Bruckner und Björk. Dazu tropfte Schmelzwasser vom Eisblock durch die Decke bis zum Boden und bevölkerten seltsame Fabelwesen das Industriedenkmal. Ein schwarzer Zottel-Yeti kauerte an einer Feuerschale und drei mysteriöse Schattengestalten schlafwandelten mit über den Gesichtern hängenden Haaren durch das Publikum. Die Szenerie wollte poetisch und stimmungsvoll sein, wirkte aber beliebig und nichtssagend. Auf der untersten Etage geriet „Abendzauber“ schließlich vollends zum prätentiösen Budenzauber mit pseudo-sakralen Anbetungen, rituellen Waschungen, ekstatischen Zuckungen und kultischen Initiationen inmitten eines von Kunstnebel umwaberten Ursuppen-Bassins, welches das herabfallende Eiswasser wie der sagenhafte Quell allen Lebens speiste.
Natur und Kitsch
Die alttestamentarische „Genesis“ erklärt mit der mythologischen Erzählung vom Baum der Erkenntnis und der Vertreibung aus dem Paradies die Entstehung des Menschen. Homo sapiens funktioniert eben nicht mehr als instinkthafte Kreatur der Natur, sondern begreift seine Existenz, Endlichkeit und Umwelt. Adam und Eva erkennen sich durch den „Sündenfall“ als selbständige Subjekte und bemächtigen sich – wie von Gott aufgetragen – der Natur als Objekt: „Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan“. Doch seitdem sehnen sich die Verbannten nach dem verlorenen Naturzusammenhang zurück. Das zentrale Ausdrucksmedium ihres „Rufs ins Entbehrte“ – so Ernst Bloch – sind Kunst und Musik, deren Utopie einer paradiesisch versöhnten Welt die bestehenden Verhältnisse jedoch zugleich affirmiert, weil sie das bessere Leben als bereits ästhetisch erreicht vorgaukelt.
Laut Intendant Ivo Van Hove will die Ruhrtriennale „über die Welt nachdenken und auf die Suche nach verlorenen und neuen Paradiesen gehen“. In diesem Sinne verstand sich „Abendzauber“ als ein Beitrag zur Weiterentwicklung des bisher unter Menschen vorherrschenden „Ego-Systems“ zu einem sozialeren und naturverträglicheren „Öko-System“. Die Idee mag richtig sein, doch im Verein mit Björks Songs wurden Friedrichs Bilder und Bruckners Chöre naiv als Ausdruck authentischen Naturerlebens genommen, das sie nie waren. Schon im 19. Jahrhundert handelte es sich inmitten massiver Umweltzerstörung, rasanter Industrialisierung, Verstädterung und Verelendung lediglich um den künstlerischen Ausdruck der Sehnsucht nach Natur, Frieden, Freiheit, Liebesglück, nicht aber um das Ersehnte selbst. Wie die auf Eis gelegten Relikte einst blühender Natur werden die Bilder und Gesänge als fetischisierte Objekte solcher Sehnsucht ausgestellt wie Gartenzwerge, deren Kitsch nichts anderes markiert als die endgültige Vertreibung des Menschen aus Natur, Kunst und Märchenwelt. Solche Surrogate für unwiederbringlich Verlorenes führen weder zurück ins alte noch in ein neues Paradies. Zu schlechter Letzt nahmen die Arrangements von Marc Schmolling den Songs von Björk auch noch deren individuelle Stimme und Ausdruckskraft. Das Publikum verließ die Mischanlage funktionsgemäß mit gemischten Gefühlen.