Inseln in einem unbegrenzten Meer
HervorgeholtZur Uraufführung von Luigi Nonos „Prometeo“
San Lorenzo in Venedig: eine Kirche von der Wende des 16. zum 17. Jahrhundert mit einem 24 Meter hohen, beinahe quadratischen Innenraum von 36 auf 38 Meter. In der Mitte querstehend ein steinerner Hochaltar der Palladio-Schule.
In diesem Raum, knapp vier Meter über dem Boden, eine Art riesige hölzerne Wanne, auf deren Boden 400 Zuhörer in roten Stoffstühlen Platz finden können. Die senkrechten, 14 Meter hohen Wände sind in drei Galerien unterteilt, auf die rundum fünf Solosänger, sieben Instrumentalsolisten, ein kleiner Chor und vier Orchestergruppen von zwölf bis vierzehn Spielern verteilt sind. Dazu kommen die Apparaturen der Life-Elektronik, Dutzende von Mikrophonen und zahlreiche Lautsprecher.
So aufwendig stellt sich dem Besucher Luigi Nonos Nicht-Oper „Prometeo“ noch vor dem Erklingen des ersten Taktes dar. Wenn aber kein Theater, keine herkömmliche Szene und Inszenierung, wieso dann ein Dramenstoff wie jener des Prometheus? Mit von Massimo Cacciari zusammengestellten Textfragmenten von Hesiod, Aischylos, altgriechischer Lyrik, von Goethe, Hölderlin, Nietzsche und Benjamin?
Nono versteht „Prometeo“ als ein komplexes Gebilde von Denkwegen, als ein „Steuern von Insel zu Insel“. Im Prometheus-Stoff fand er Themen von zentraler Bedeutung, für ihn hier und heute: „Der Mensch und das Gesetz, der Mensch und seine beständige Suche des Unerkannten, der Mensch und die Konstruktion neuer Gesetze und deren Übertretung. Prometheus ist der Mensch mit dem ewigen Durst. nach neuen Erden und Grenzen. Er ist der Mensch, der sich gegen die kulturelle Restauration auflehnt, welche das Aufkommen neuer Zeiten verzögert.“
„Tragödie des Hörens“ nennt Nono den „Prometeo“. Tragödie wird hier verstanden als das Leiden in einer Zwischenzeit, einer Noch-Nicht-Zeit: Die alten Gesetze bestehen noch, Prometheus aber prophezeit der alten Götter Ende.
Dieses Denken im Aufbruch steht hinter allen Werken Nonos nach der Oper „AI gran sole carico d'amore“ von 1975 – und „Prometeo“ ist das Ziel gewesen, auf das diese alle hinsteuerten. Es ist dies ein Denken, das weiß, daß die Welt heute durch kein totalisierendes System, durch keinen globalen Zugriff mehr zu fassen ist. Mehr noch: Dieses „pensiero debole“, dieses „schwache Denken“ weiß, daß das Entscheidende, das überhaupt Wissbare, gerade nicht im globalen, sondern wesentlich nur im kleinsten Übergang, im Detail greifbar sein kann. Und es weiß, daß die einzigen Sicherheiten nur fragmentarische, nur gebrochene sein können.
Im Anschluß vor allem an Sartre, Wittgenstein und gar Heidegger hat die jüngste italienische Philosophie – etwa Gianni Vattimo, Pier Aldo Rovatti, aber auch, in ähnlicher Weise, Nonos enger Freund und Textautor Massimo Cacciari, im „schwachen Denken“ Theorien und Denkwege entwickelt, die mit Nonos jüngsten Werken auf ganz frappante Weise übereinstimmen.
Aber: Nono ist Musiker – und sein Denken ist ein musikalisches Denken, ein Denken in Klängen: „Die Musik ist eine mögliche Sprache der Veränderung“, sagt er jüngst in Bezug auf den „Prometeo“, und um Veränderungen im Blick auf das Neue, das Unbekannte, vor allem aber das Ungehörte geht es im „Prometeo“ ganz zentral. „Prometeo“ zielt auf ein fragendes, ein erkundendes Hören, ein völlig offenes Hören, das nicht bloß das Bekannte bestätigt haben will. Der Bau der „Prometheus“-Wanne, dieses Hör-Raumes ist als Voraussetzung für ein solches konzentriertes Hören zu verstehen.
Der Zuhörer ist gefordert, denn es geht um das Erfassen der kleinsten Veränderungen: nicht bloß mikrointervallische Veränderungen der Tonhöhen, dynamische Unterschiede zwischen vier- und zehnfachem piano, sondern auch das Erfassen der Bewegungen im Raum, das Lauschen auf die Innenstruktur der einzelnen Töne, die Unterschiede in der Räumlichkeit der Klänge wie die unerhörten Verbindungen von Vokal- und Instrumentalklängen und deren Transformationen.
Gut zwei Stunden dauert die in Venedig uraufgeführte Fassung, die im Verlauf der einmonatigen Proben, nach Kürzungen von über vierzig Minuten, entstanden war. Dieser „Prometeo“ setzt sich aus elf Abschnitten zusammen, die zwischen 2½ und 35 Minuten dauern. Sie sind nicht nur unterschiedlich besetzt, sondern unterscheiden sich auch strukturell ganz wesentlich voneinander. Es gibt Teile für wenige Solostimmen und Instrumente, an der Grenze des Hörbaren, wie das „Interludio primo“ und, am Ende des ganzen Werkes, den Satz „Stasimo secondo“; „A cantar e sonar“ steht in der Partitur, ein Verweis auf eine Besetzungsanweisung der Renaissance. Dieses zehnminütige Stück, vielleicht der Höhepunkt des ganzen Werkes, ist von einem unerhörten Reichtum an klanglichem Innenleben, ebenso neu wie gleichzeitig eine Reflexion über die alte venezianische Polyphonie des 16. Jahrhunderts.
Daneben stehen vielgliedrige Sätze wie etwa der zweite, auf das „Preludio“ folgende, „erste Insel“, in welchem äußerste Gegensätze klanglicher und struktureller Natur unvermittelt gegeneinanderstehen. Die Basis bildet ein durchgehendes, ganz leises Trio für Viola, Cello und Kontrabaß, das über kurze Strecken von Orchesterblöcken zugedeckt wird. Für Nono ist ein derartiger Satz Ton-Denken, und er schreibt dazu in die Partitur: „Behauptungen – Fragen – innere Probleme – entäußerte, mit ,Antworten“'. Das Drama ist hier nicht „Theater“ im herkömmlichen Sinne, sondern Aktion innerhalb der Musik. Der Text zu dieser „Isola prima“ steht zwar im Programmheft, aber er erklingt nicht. Nono hat ihn zwischen den Orchesterblöcken in die Partitur geschrieben, mit der ausdrücklichen Anweisung, daß er in keinem Falle rezitiert werden dürfe. Dieser Text erzählt mit den Worten des Aischylos, wie Prometheus die Menschen befreite, als sie noch mit offenen Augen nicht sahen, und als ihr Hören nicht hörte.
In anderen Sätzen wiederum sind es bloß einzelne Worte des Textes, die gesungen werden. Nono wie Cacciari geht es gerade nicht um eine erzählende Kontinuität, um Drama und Handlung im herkömmlichen Sinne. Nonos „Prometeo“ ist vielmehr eine Landschaft von vielen Inseln in einem unbegrenzten Meer, ein Ganzes aus lauter Fragmenten und Episoden. Für die Musik sind die Fermaten das bezeichnendste Merkmal. Tonbewegungen bleiben immer wieder stehen, verlieren sich, und werden in diesem Verklingen klanglich verändert, bevor sie im Schweigen versinken.
Aber gleichzeitig gibt es auch das genaue Gegenteil: Aus den Klängen eines einzigen Blechblasinstrumentes wird im sechsten Satz durch die Life-Elektronik mit ihren Filtern und Verzögerern ein vielschichtiges Klangband gewonnen. Das bildet dann eine von drei Klangebenen. Die Vokalsoli von Sopran, Alt und Tenor und solistische Streicher des Orchesters in höchsten Lagen bilden die Komplementärebenen.
„Prometeo“ ist der Versuch einer Synthese, aber kein Endpunkt. Die Erfahrungen, die der Komponist während der Einstudierung machen konnte, wirkten bereits auf diese selbst zurück, und es steht außer Frage, daß die nächsten Produktionen – in einem Jahr in Mailand, dann in Paris und Berlin – die venezianischen Erfahrungen weiter treiben werden. Es gibt Passagen im „Prometeo“. Die ganz unmittelbar an den Nono der fünfziger Jahre oder an die zweite Oper „AI gran sole“ erinnern, etwa Soli für Tenor (Prometheus) und Chor. Solche Momente kann man als Kontinuitäten innerhalb von Nonos Komponieren hervorheben, aber man kann sie gleichzeitig auch als „Relikte“ eines bereits Überholten betrachten. Wichtig erscheint mir, daß man die Spannung zwischen Kontinuität und Überwinden erkennt, mehr noch, daß man sie aushält.
Im Zentrum von Luigi Nonos „Prometeo“ steht nicht eine Entscheidung, den gordischen Knoten gewaltsam zu durchschneiden im Glauben, daß damit Probleme lösbar wären; im Zentrum stehen die widersprüchlichen Kräfte, die das Seil zum Knoten zusammenziehen.
Hervorgeholt
Unter dieser Rubrik werden ausgewählte Beiträge aus vierzig Jahren MusikTexte (1983–2023) erstmals online veröffentlicht. Im Kurzschluss mit heutigen Ereignissen, Veranstaltungen oder Jubiläen erhellen die inzwischen historischen Texte womöglich gegenwärtige Verhältnisse und Sichtweisen. Der Schweizer Musikwissenschaftler Jörg Stenzl – Herausgeber des Bands „Luigi Nono: Texte, Studien zu seiner Musik“ (1975) – hatte im September 1984 die Uraufführung von Nonos Musiktheater „Prometeo“ in Venedig besucht und dann in MusikTexte 6 (Oktober 1984) darüber berichtet. In Verbindung mit dem hundertsten Geburtstag Nonos in diesem Jahr, der aktuell nur wenig gewürdigt wird, gibt dies genau vierzig Jahre später den Anlass, diesen Artikel erneut hervorzuholen. (RN)