Grande Finale

Kommentar

Zum Ende des Notensatzprogramms Finale

Man kommt sich vor wie im Zirkus. Wenn es denn lustig wäre. Am 26. August 2024 verbreitet sich lauffeuerartig die Nachricht, dass die Firma Makemusic das Notationsprogramm Finale einstellen wird. Es wirkte wie ein Erdbeben und hat auch nachhaltige Wirkung. Der CEO Greg Dell‘Era bedankt sich in der Nachricht rasch bei den „customers“, zaubert mit dem Programm Dorico (mit dem Hersteller, der Firma Steinberg, wurde ein Angebot ausgehandelt) eine Alternative aus dem Hut und versucht gleich ins Verkaufsgespräch zu kommen. Wir sollen jetzt alle Dorico kaufen und Finale vergessen. Dazu, was das für Komponist:innen und jahrzehntelange „customers“ bedeutet, sagt er nichts. Die Ära von Finale beendet Herr Dell’Era in einem wohlvorbereiteten Handstreich, und der Schock war Teil der Strategie. Der führt bekanntlich zu Starre, dann Aktivismus, zu voreiligen Rettungsversuchen und dann rennt man schnell in die Arme dessen, der einem den Schlag versetzt hat. 

Der ganze Vorgang ist aber nicht nur ein Geschäftsvorgang, sondern vor allem eine Frage des Stils. Vermutlich waren die Dorico-Leute so fixiert auf ihre neue Software, dass ihnen diese Frage ebenso wenig in den Sinn kam wie die nach der eigenen Empathie mit Menschen, die seit vielen Jahren mit Finale arbeiten. Wer so stillos mit Kunden umgeht, der wird das auch in Zukunft so machen und will Abhängigkeit erzeugen. Für diese Rücksichtslosigkeit wünscht man Makemusic ein paar Hacker an den Hals, die den Quellcode von Finale entwenden und ihn open source auf den Markt werfen. Die Firma dürfte sich darüber nicht beschweren, denn sie will ja ihr Geld damit verdienen, dass sie Finale aus dem Verkehr zieht. Und nicht alle wollen zu Dorico. Zum Vergleich: Ich verkaufe meine italienische Violine auch nicht, bloß weil es plötzlich E-Violins im Store gibt. 

Viele Leute haben nun sehr viel zu tun, ohne dafür bezahlt zu werden: Seit Jahren mit Finale arbeitende Komponist:innen müssen hoffen, dass ihr Rechner weiterläuft, fleißig konvertieren und neue Software kaufen. Junge Komponist:innen, die ihr weniges Geld in Finale investiert haben, haben das Nachsehen. Verlage müssen ebenfalls handeln oder lassen die Materialien dann einfach als PDFs in ihren Speichern. Schulen, Hochschulen und ihre Lehrer:innen können ihre Files entweder auf ewig so lassen oder müssen neu anfangen. Die Subunternehmer:innen, die Finale vertreiben, sind sichtlich auch überrascht und werden mitziehen müssen. Manche:r wird sich aber auch einen neuen Job suchen. Eine Firma wie Sibelius freut sich, denn es werden scharenweise „Finalisten“ wechseln. Und die Firma Steinberg wird sich freuen, denn viele panische Komponist:innen werden sich anpassen und zu Dorico überlaufen. Wird man nicht aktiv, dann wird man in die Zeit vor dem Internet zurückkatapultiert. 

Allerdings haben auch zahlreiche Kund:innen protestiert und sehr rasch bewirkt, dass das Ableben von Finale noch eine Zeitlang hinausgeschoben wird, wie man mehreren Updates auf der Makemusic-Seite entnehmen kann.1 Herr Dell’Era hat ein bisschen zurückgerudert, aber am Ende bleibt er doch ein Straßenräuber. Zuerst nimmt er das Geld seiner Kund:innen, was korrekt ist, aber dann raubt er ihnen Zeit, Geld und Energie, weil sie sich neue Möglichkeiten suchen müssen, und schließlich empfiehlt er gleich etwas, an dem er wieder selbst verdient (Discount hin oder her) – das ist die freundliche Art eines Diebs, der „Haltet den Dieb!“ ruft.

Das Ganze ist aber nicht nur eine praktische oder ethische Frage, sondern vor allem auch eine ästhetische, schließlich geht es um Musik. Jedes Notationsprogramm hat, was man gerne übersieht, eine Ästhetik, und die von Dorico beschreibt die dazugehörige Webseite, zum Beispiel wenn sie über das „Veröffentlichen“ spricht: „Deine Musik wird von Dorico automatisch nach den Regeln des Notensatzes formatiert. Mit Dorico Pro stehen dir alle Werkzeuge, mit tausenden Einstellmöglichkeiten zur Verfügung, um die Anforderungen eines jeden Verlags zu erfüllen. Aber wahrscheinlich wirst du sie nie benötigen, weil alles schon standardmäßig gut aussieht.“2 Die Macher von Dorico dekuvrieren ihre Ästhetik schon im ersten Satz, denn woher weiß Dorico schon, wie meine Musik formatiert werden muss? Der zweite Satz entlarvt das Verhältnis zu Notenverlagen, denn die haben es auch gerne pfannenfertig. Die schöne Zahl „tausend“ ist die älteste Betrugsmasche, die es gibt, um Vielfalt vorzutäuschen. Das Wichtigste bleibt für Dorico die Formatierung – es muss „standardmäßig“ aussehen. 

Diese Plattform für „Creativity“ ist, wenn diese Kategorien zählen, eine Autobahn fürs Immergleiche. Hier scheint Geschwindigkeit das Wichtigste zu sein, die den kleinen Kapitalisten in uns weckt und bei der die Software uns das Denken abnimmt. Aber vielleicht geschehen in der Musik die wichtigsten Dinge, wenn man nicht einfach von einem Ziel zum anderen rast, sondern sich mal fragt, ob und wozu das alles gut ist? Dazu müsste man allerdings mal anhalten und aus dem kleinen Rennauto aussteigen. Dass Hans Zimmer als Beispiel für einen Dorico-Komponisten auf der Webseite auftaucht, verwundert nicht. „Komponieren“ wird so zu einem ganz meisterlichen, aber immergleichen Handwerk, das „funktioniert“ – und man tut so, als wüsste man ganz genau, was Musik ist und vor allem wofür Musik da ist.

Wenn stimmen würde, was die Firma Steinberg verkündet, „Creativity First“,3 dann müssten sie und Makemusic mit den kreativen Kund:innen, die jetzt all ihre Kreativität aufbieten müssen, um ihre alten Files zu retten, anders umgehen. Und das ist nicht nur eine Sache von „einmal passiert etwas Schlimmes“, sondern systemisch: Es betrifft die Art, wie wir mit der Software umgehen sollen. Es ist, um es anders zu sagen, eine Gängelei, die uns als Vielfalt verkauft wird und uns in eine Richtung zwingt, von der die Macher sicher sehr überzeugt sind. Aber müssen wir alle das Gleiche denken?

Mit Finale arbeite ich seit vielen Jahren. Das Programm ist an vielen Ecken zickig, umständlich, überraschend, aber auch voller unerwarteter Möglichkeiten und einfacher Lösungen für ungewöhnliche Probleme. Die „Fehler“ des Programms sind, vielleicht überraschend für die Rennfahrer, gerade wichtig. Es hat ein erträgliches Maß an eigener Ästhetik, die man umbiegen kann, wenn es notwendig ist. So konnte ich zum Beispiel ein großes Orchesterstück in space notation schreiben – das Programm hat gemurrt, aber es ging. Dorico, ich habe es getestet, würde da nur streiken. Mir geht es nicht darum zu lamentieren, dass ich gegebenenfalls ein neues Programm lernen müsste. Dass kann sogar Spaß machen. Und zweifellos wird es immer neue Software geben. Aber mit Verlaub: ich habe keine Lust gegen das Werkzeug, mit dem ich arbeite, anzudenken und zum Programm zu oft „nein“ sagen zu müssen. Negieren-Müssen macht müde.

Genau hier ist der ästhetische Knackpunkt. Herr Dell’Era bedenkt nicht, dass Komponieren auch bedeutet, Regeln und Systeme zu erfinden, statt nur vorgefundenen zu folgen, und dass dies gerade die „Creativity“ der Musikgeschichte substanziell garantiert. Jedes Tool ist manifestierter Geist, auch wenn dieser Geist nicht immer schön ist. Ein Tool, das uns (mit bestem Vorsatz seiner Macher:innen) seine Ästhetik aufzwingen möchte, dient aber nicht der Musik. Der erste Mercedes war eine stinkende Kutsche, die ruckelte so, wie Finale manchmal ruckelt. Aber damit ließ sich etwas Neues machen. Heute die S-Klasse nochmals zu polieren, ist auf der Creativity-Seite eine im Vergleich ziemlich blasse Leistung. Aber es lässt sich damit Geld verdienen und es kann dafür gesorgt werden, dass die Kund:innen nicht auf dumme Gedanken kommen und plötzlich etwas unerwartet Neues wollen oder erfinden. Diese Kapitalismuskritik mag naiv klingen, ich weiß aber auch, dass nicht alle aufs Geldverdienen aus sind. Aber wir sollten nicht vergessen, dass Kapitalismus eine Denkweise ist, die uns prägt. Das nicht immer schön – und genau das ist an diesem Vorgang feststellbar. 

Daher ist es überhaupt kein Konservativismus, Finale zu verteidigen, vielmehr zeigen sich verschiedene Prioritäten. Da ich die von Herrn Dell’Era nicht teile, klingen diese Sätze für mich zynisch: „I want to sincerely express our warm and deep gratitude to all of our loyal and passionate users. Our entire organization thanks you for your trust, and we believe you have a bright new phase of creativity, productivity, and efficiency ahead with Dorico.”4 

Immer, wenn irgendwo Panik ausbricht, versucht man seine Haut zu retten. Das ist so, aber dabei verliert man wichtige Aspekte aus den Augen. Man ist getrieben, und genau das ist für die Künste keine gute Basis. Man argumentiert technisch-praktisch, aber fragt sich nicht, was das alles soll und was man als Komponist:in will. Man schaut auf die Situation, aber nicht auf sich, obwohl man doch gerade selbst deren Opfer und im Grunde die wichtigste Person ist. Es ist auffällig, wie wenig ästhetische Fragen bei der Software-Debatte eine Rolle spielen, obwohl es doch genau darum gehen sollte. Denn, um beim Handwerk zu bleiben, ich nehme doch keinen Hammer, wenn ich eine Säge brauche. Aber dazu muss ich erst mal überlegen, was ich machen will. Wenn mir einfach jemand eilig einen Hammer reicht und ich Angst habe, gar nichts mehr machen zu können, dann haue ich plötzlich Nägel in die Wand, obwohl ich eigentlich Bretter sägen wollte. Der Hammer sagt, was ich tun soll, und Herr Dell’Era versucht uns zu zeigen, wo dieser Hammer hängt. Ein „marteau sans maître“ ist mir aber viel lieber.

1 Dies und die folgenden Zitate aus dem Brief von Greg Dell’Era sind zu finden auf: finalemusic.com/blog/end-of-finale-new-journey-dorico-letter-from-president (aufgerufen am 30.08.2024)
2 steinberg.net/de/dorico (aufgerufen am 30.08.2024)
3 steinberg.net/de (aufgerufen am 30.08.2024)
4 siehe Anm. 1