Beten für das Klima

Essay

Über die (Un)Wirksamkeit von "Klimamusik"

An einer kleinen rotierenden Erdkugel sind die beiden Zeiger einer großen Uhr befestigt, die 11 Uhr zeigen. Nicht Minuten jedoch verrinnen dort, sondern Jahre und Jahrzehnte durchmessen den Zeitraum von 1880 bis 2080, in denen der Mensch um sein Überleben kämpft. Denn mit jedem Voranrücken der Zeiger steigen auch die Zählerstände der Weltbevölkerung und des CO2-Ausstoßes und verschiebt sich das Verhältnis von natürlicher zu menschlich genutzter Fläche auf der kleinen Erde, die langsam, aber sicher auf ihren „Kurz-vor-12“-Moment zuläuft.

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"Icarus in Flight" von Richard Festinger, Videostill

Diese Daten werden hinter der Bühne dargestellt und informieren die Komposition des Streichquartetts „Icarus in Flight“ des US-Amerikaners Richard Festinger. Einem Zuwachs der Weltbevölkerung entspricht ein Zuwachs der musikalischen Ereignisdichte, dem Anwachsen des CO2-Ausstoßes eine Steigerung des Ambitus und einem steigenden Anteil menschlicher Landnutzung eine größere Vielfalt an Spieltechniken. Ja, in der großen Terz sollen sogar diejenigen Momente markiert sein, die für die internationale Bekämpfung des Klimawandels von besonderer Bedeutung gewesen seien.

Diese große Terz ist jedoch – nach einer Akkordmasse, die sich langsam in Quartenharmonik und dramatisch gespreizten Septimen bis ins Jahr 2024 nach oben schraubt – erst in der Zukunft so häufig zu hören, dass Flageolett-Klagerufe der Geige die Arpeggien und ponticello-Perkussionen zu beruhigen vermögen. Ab dem Jahr 2074 ist der CO2-Ausstoß tatsächlich rückläufig, das Bevölkerungswachstum stagniert und die Komposi­tion klingt mit einer offenen, erleichterten, wiewohl noch in hoher Dichte pulsierenden Quarte aus.

Hat an dieser projizierten Abschwächung des Klimawandels diese Komposition ihren Anteil? Immer mehr Zusammenschlüsse und Aktionsgemeinschaften behaupten dies, wie die auftraggebende Initiative von „Icarus in Flight“, das Climate Music Project in San Francisco: Das Projekt rühmt die „Verknüpfung von Wissenschaft und Musik“ (siehe Youtube) und reicht auf der Website detailliertes Datenmaterial: „Die Wissenschaft hinter der Musik“. Dahinter steht die Strategie, dass Musik der überwältigenden „Objektivität“ wissenschaftlicher Daten zum Klimawandel emotionale Tiefe geben und als Anschauungsmaterial dienen könne, um Handlungspotenzial zu steigern. Das Climate Music Project möchte versuchen, „Musik zu nutzen, um die dringende Geschichte des Klimawandels einem breiten und vielfältigen Publikum auf eine Art und Weise zu erzählen, die Resonanz schafft, aufklärt und motiviert.“

Das Narrativ ist allgegenwärtig: Musik kann die emotionale Nahbarkeit schaffen, die die schnöden Daten der naturwissenschaftlichen Forschung entbehrten. „Musik kann inspirieren, informieren, motivieren und die Menschen auf einer emotionalen Ebene erreichen, jenseits von Zahlen und Diagrammen.“ (Musicians for Climate); „Die emotionale Kraft der Musik ist für uns dabei das Medium, Menschen zu erreichen und zu inspirieren.“ (Orchester des Wandels); „Klimaschutz braucht mitreißende Erzählungen, ansprechende Stimmen und einladende Wege in eine bessere Zukunft.“ (Klima Allianz Leitfaden Kultur). Entsprechend vielfältig ist mittlerweile die Produktion von Klimamusik, wie ich sie hier grob nennen möchte: Konzerte vor Eisbergen, mit den Klängen von Eisbergen, an und für Eisberge häufen sich und heizen auch in der Musik die Diskussion um den Klimaschutz auf.

Damit verbinden sich Forderungen, vor dem Hintergrund der Klimakrise „Musik neu zu denken“ (Gisela Nauck), als „Gestaltungsaufgabe der gesamtgesellschaftlichen Transformation“ aufzufassen (Bernhard König) und ihr eine wichtige Rolle „beim Übergang unserer Gesellschaften zu einer (...) nachhaltigeren Zukunft“ zuzusprechen (Symposium Time to Listen). Kultur und Musik sollen neben den sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Faktoren als vierte Säule der Nachhaltigkeit in den Neubau der kommenden Gesellschaft integriert werden. Musik soll als „transformative Bildung“ „Werte-, Denk- und Handlungsmuster“ verändern (Deutscher Kulturrat). Gefordert wird eine grundsätzliche Neubestimmung der Rolle von Musik in unserer Gesellschaft. Doch von welcher Musik sprechen wir hier? Welche Wirksamkeit können wir Musik zusprechen? Was soll Musik sein?

1) Wissenschaft

Ein tiefer hohler Drone fluktuiert mit leichtem Zittern, aufgeregt durch ein gelegentliches Plätschern und Klacken. Die Monotonie wird bald eingehüllt von einem wabernden Ambient-Keyboard und das Bild enthüllt die Quelle dieser Klänge: einen Baum. In seinem vielbeachteten Projekt macht Marcus Maeder mit Mikrofonen, die in die Stämme von Kiefern versenkt werden, den Trockenstress von Bäumen hörbar. So also klingt ein Baum – mit Ambient-Keyboard.

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Videostill von "TreeLab"

Zahllose Klangarbeiten widmen sich der Erkundung ökoakustischer Phänomene und verbinden das Konzept der Soundscapes mit den Fragen des Klimawandels. Wie im Eingangsbeispiel „Icarus in Flight“ bleibt jedoch die Frage, was ohne Aufschlüsselung der zugrundeliegenden Datenquellen an Informationsgehalt übrig bliebe.

Die Kopplung musikalischer Parameter an Reihen von Daten, das heißt deren Sonifikation – Verklanglichung im weitesten Sinne –, lässt die grundsätzlich soziale Verfasstheit von musikalischer Bedeutung außer Acht. Die Quartenharmonik und vor Emotionalität triefende Klangsprache in „Icarus in Flight“ offenbart nicht eine den Daten innewohnende Ausweglosigkeit und Dramatik, sondern lediglich den moralischen Unterbau ihrer kompositorischen Motivation. Diese Motivation ist damit nicht infrage gestellt, sie enthebt sich jedoch ebenso wenig den Deutungsmustern und Grammatiken des Hörens wie die vermeintlich nüchterne Verklanglichung von direkt eingespeisten Signalen in Marcus Maeders Treelab „Acla“.

Vielmehr werden die eigenen ästhetischen Entscheidungen auf Grundlage von Sozialisation und Biografie unter dem Mäntelchen der wissenschaftlichen Objektivität versteckt, indem eine Folgerichtigkeit zwischen Datenquelle und Klangresultat behauptet wird, die so nicht existiert. Die „Verknüpfung von Wissenschaft und Musik“ ist eine Legitimationsstrategie der eigenen künstlerischen Arbeit, die institutionalisierte Anerkennungsmechanismen wissenschaftlicher Methodik auf die musikalische Wertigkeit übertragen soll. In anderen Worten: Es handelt sich um eine Rechtfertigungs- und Marketingstrategie.

Nun ist Marketing an sich noch nichts Verwerfliches, erst recht nicht, wenn es so hehren Zielen wie dem Klimaschutz dient. Das soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass mit Wissenschaftlichkeit allein – und sei sie noch so emotionalisiert – noch nichts für das Klima erreicht ist. Nachdem man einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Klimafakten und Klangresultat behauptet hat, knüpft in der Argumentation der Klimamusik dann die Vermittlung an: Bewusstsein soll geschaffen werden, Reflexionsfähigkeit gesteigert, Motivation geweckt, transformative Bildungsarbeit geleistet, die Musik als Kämpferin für den real existierenden Klimaschutz nutzbar gemacht werden.

2) Natur

Die Bühne ist dunkel, nur ein kleines Licht leuchtet kurz auf, dann zwei weitere. Die Lichter beschreiben Flugbahnen und verlöschen vor einsetzenden Luftgeräuschen der Blechbläser. Die unheimlich-heimelige Dunkelheit verstärken Bassinstrumente, Flageolett-Akzente und sul ponticello-Färbungen. Ein Keckern und Knarzen, Horn und Trompeten werfen sich tierisch anmutende Signale durch den immer dichter werdenden Wald zu, durch den die LED-Glühwürmchen sausen. „Bioluminescence“ von Kristine Tjøgersen ist keine Klimamusik im oben gemeinten Sinne, aber – und das ist eine freche Behauptung – aus ähnlichen Gründen ein ausgesprochen erfolgreiches Stück der letzten Jahre: „Indem ich der Natur im Konzertsaal eine Stimme gebe, möchte ich das Publikum mit wertvollen Lebensformen vertraut machen und das Bewusstsein dafür schärfen, was verloren gehen kann, wenn der Mensch die Natur weiterhin verändert.“ Die fraglos drängende und gewaltige Aufgabe der gesamtgesellschaftlichen Transformation zu mehr Klimaschutz wird folgsam in den Konzertsaal getragen, indem Naturstücke mit der Moralkeule auf die Tränendrüse drücken und ins Klimamarketing eingebettet werden.

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Videostill einer Aufführung von "Bioluminescence" des WDR Sinfonieorchesters

Dabei wird in der erweiterten These von Musik als Bildungswerkzeug für die Belange des Klimaschutzes eine weitere falsche Verbindung vorgenommen, nämlich die von Natur und Klima. Die vielschichtig und liebevoll eingerichtete Klanglandschaft von „Bioluminescence“ kann mir zweifellos die Majestät und unwiederbringliche Fragilität eines Ökosystems in seiner Komplexität näherbringen. Auch wissen wir nun dank Marcus Maeder, dass Bäume unter Trockenstress einen weniger stetigen Wasserfluss durch den Stamm haben und können uns dies mit dem nervösen Zittern des Drones vor Ohren führen. Ja selbst die große Zuspitzung von „Icarus in Flight“ wird mir vielleicht die dramatische Anspannung und blindwütige Warensucht einer Welt im Durchdrehen mit einem Klangbild verknüpfen. Doch ist mit dieser emotionalen Verbindung zur uns umgebenden Natur und einem wachsenden Einfühlungsvermögen in Bäume, Wälder und natürliche Flächen nichts für den Klimaschutz getan. Denn das Klima ist kein Problem der Natur, sondern eines des Menschen.

Alle aufgerufenen Beispiele schmücken sich auf mehr oder minder schamlose Weise mit einem Aktivismus, der ins Leere läuft. Denn die Probleme des Klimawandels und die Aufgaben eines Klimaschutzes sind sozialer Natur. Die globalen Produktionsbedingungen, Arbeitsverhältnisse und das Konsumverhalten sind untrennbar mit sozialer und ökonomischer Ungleichheit verbunden. Klimawandel ist nicht zu lösen von Fragen der Ausbeutung, Armut und Diskriminierung.

Vielen Musiker:innen und Aktivist:innen ist dies nur allzu klar, wie zuletzt das dritte Symposium „Time to Listen“ der Berliner initiative neue musik und der Akademie der Künste zeigte, das sich dem Thema Ungleichheit widmete. Wird man sich dieser komplexen Vernetztheit des Klimawandels mit den Fragen der gegenwärtigen Machtverhältnisse in allen ihren Formen bewusst, lösen sich die „klimamusikalischen“ Ansätze jedoch in Luft auf: Indem sie das Politische schlechthin und nicht nur „Natur“ oder „Klima“ als ihr Handlungsfeld begreifen, laufen sie auf die Grenzwerte der tautologischen Gemeinplätze „Musik ist politisch“ und „Umwelt ist musikalisch“ zu. Diese Grenzwerte der ästhetischen Positionierung lassen die Fluxus-Bewegung als eigentliche Klimamusik erscheinen, eine Bewegung, deren ganzheitlicher Umweltbegriff ein musikalisches Eingreifen in alle Belange des Lebens ermöglichte. Die Widerständigkeit dieser Praxis lässt die Verlogenheit der „Marketingstrategie Klimamusik“ deutlicher zutage treten: Die eilfertigen musikalischen Klimaprogramme reden einem politischen Establishment das Wort, das an den verborgenen Herrschaftsverhältnissen nichts verändert, und folgen in ihrer emotionalisierenden Ästhetik den pastoralen Weltflüchten des 19. Jahrhunderts. Das Label „Klimamusik“ ist eine als Politik verkappte Unpolitik.

3) Krieg

Dräuend grollt der E-Bass und die Fingernägel schaben blutdurstig über die Saiten. Das Orchester setzt Schweller an Schweller und hält die bleierne Spannung aufrecht – ein kreischender Cluster formt sich und entlädt sich ins Leere, dann elektrische Störgeräusche und wieder das Anschwellen eines Clusters. Ähnlich wie Ikarus schwingt sich die Komposition immer höher auf zur oben drohenden Gefahr – „Kubrick’s Bomb“, so der Titel des dritten Satzes in Claus-Steffen Mahnkopfs „Ukraine Triptychon“. Laut Angaben des Komponisten entstand die Komposition als direkte Reaktion auf das atomare Säbelrasseln von Putins Russland: „Als Putin im April erneut mit der Atombombe drohte, schrie ich auf: ‚Mir reicht’s!‘ Ich musste etwas tun.“ Mahnkopf schrieb das Ukraine-Triptychon „in Solidarität mit dem ukrainischen Volk“.

Dessen höchst tendenziöse Satztitel „Holodomor“, „The Jewish Cemetery of Warsaw“ und eben „Kubrick’s Bomb“ bilden das Negativ zur Unwirksamkeit der Klimamusik: Was diese an Politik unterschlägt, kehrt jene schamlos nach außen und verfällt damit ebenso einer Einseitigkeit, die auf besorgniserregende Weise undifferenziert ist. Denn im Schatten des politischen Aufschreis der Empörung liegt eine Angst, die mit grobschlächtigen und blindwütigen Schuldzuweisungen übertüncht wird. Wie bei der Klimamusik die Politik wird hier mit Politik die Umwelt unterschlagen, jene musikalische Umwelt, deren Besonderheiten sich nicht restlos in die Eindeutigkeiten opponierender Kriegsparteien fügen wollen.

Damit heimelt sich ein musikalischer Diskurs den Moden und Schlagwörtern der – immer scherenschnittartiger werdenden – öffentlichen Debattenkultur an und öffnet der politischen Vereinnahmung Tür und Tor. Valentin Silvestrov wird als leeres Zeichen der Solidarität mit der Ukraine landauf landab programmiert und für die eigenen politischen Hoffärtigkeiten benutzt, ebenso wie Gedenkkonzerte zum 7. Oktober wie ein großes Banner der eigenen politischen Redlichkeit vor sich hergetragen werden. Wie in der Forschung derzeit reihenweise Zivilklauseln gestrichen werden, die bislang zumindest offiziell die Nutzung wissenschaftlicher Ergebnisse allein für nicht-militärische Zwecke gewährleistet haben, rennt der Esel künstlerische Produktion an der Karotte der Fördergelder dem aktuellen politischen Lüftchen hinterher und muss vor Erhalt der Gelder auch noch mit einem neu eingeführten Formular der Feindbild-Räson „Terror“ abschwören, in deren Namen kritisch denkende Menschen ohne Prozess abgeschoben werden können. Am Ende wird aus der „demokratischen“ Mitte der Gesellschaft, die die Musik immer wieder für sich beansprucht, am lautesten das Kriegslied gepfiffen. Und nach dem Ukraine-Triptychon „in Solidarität mit dem ukrainischen Volk“ kommt dann bald der „Marsch für die deutschen Militärdienstleistenden“ und der „Thyssen-Tusch“. Das sind nur die folgerichtigen Aussichten eines staatlich geförderten Musiklebens in einem Klima, in dem die Luft der Meinungsfreiheit dünn wird.

Die Parallele von Kriegs- und Klimamusik besteht in einem Aktionismus, der sich als Aktivismus tarnt. Aktionismus aber ist Ausdruck von Angst und Ventil eines Ohnmachtgefühls, das angesichts fehlender politischer Teilhabe sowohl in Fragen des Klimaschutzes als auch in Fragen der Kriegsführung nur allzu verständlich ist. Daraus folgt nicht, dass der Elfenbeinturm das einzige Handlungsfeld der Musik wäre, und erst recht nicht, dass Musik mit Politik nichts am Hut hätte. Daraus folgt nur, dass die Frage, welche Wirksamkeit der Musik angesichts einer lähmenden Ohnmacht zukommen könnte, nicht allein auf Ebene ökologischer und politischer Debatten beantwortet werden kann. Was Musik soll, muss musikalisch befragt werden.

4) Sinn

Hinter all dem steht also – um den anmaßenden Bogen der großen Fragen der Musik endgültig zu überspannen – die Frage nach dem Sinn. Welche Bedeutung hat Musik? Die, die wir ihr geben. Also eine uneingeschränkt soziale, damit aber auch eine uneingeschränkt wandelbare. Das ist ein Faszinosum und Geheimnis der musikalischen Sprache: Wie Elektronen und Protonen sich um das Atom gruppieren, so lädt sich Klang mit Bedeutung auf. Die Krafteinwirkungen und Entladungen während der musikalischen Experimente, die ein Konzert sind, können dazu führen, dass die chemische Zusammensetzung der Bedeutungselemente in Fluss

gerät, Aggregatzustände wechseln, Energie in Form von Wärme oder Licht abgegeben wird. Die musikalische Grammatik ist die von Bedeutungsstrukturen – nicht von Bedeutung selbst. Nicht die Nachricht wird gestaltet, sondern das Medium, nicht die Information, sondern der Informationskanal. Das leere Zentrum bewegt die Sinnproduktion und macht aus Musik nicht ein Sprachrohr, sondern „a rapid means of transportation“, wie John Cage sagte, ein rasendes Beförderungsmittel. Nur in der Bewegung wird Musik sinnhaltig, darin liegt ihre isomorphe Verwandtschaft zur Emotion. Es besteht eine Unschärferelation zwischen Musik und dem, was sie bedeutet: Blicken wir auf die Musik, entgleitet uns die Bedeutung, fassen wir die Bedeutung, verlieren wir die Musik. Nur in der Zeit fallen beide Dimensionen in eins. Wer Musik mit Eindeutigkeiten aufladen möchte, verrät sie. Deshalb wird der politischen Verantwortung der Musik nur gerecht, wer darauf beharrt: Der musikalische Sinn bleibt fraglich – und damit ihre Wirksamkeit.

5) Gebet

Mit einem pfropfenden Anblas-Zischen löst sich ein Ton aus dem Horn, nicht hoch, aber doch druckvoll gepresst, schwillt an zu einem hohlen, Raum und Weite füllenden Signalton, um letztlich mit einem schnellen Abgleiten den ausgreifenden Bogen nach unten zu schließen. Ein Ruf, so einzigartig wie allgemeingültig, ein Ruf, der Antwort erwarten lässt. Kommt, von hinten, wo der Klangbogen geendet haben muss, das Echo, gleichsam verwandt und unvergleichlich einzigartig, zurück?

Liza Lims „Shallow Grave“ für das nach neolithischen Höhlenfunden rekonstruierte Ton-Horn von Marco Blaauw hält die Antwort im Fraglichen. Der denkbar einfachste Klang, wie er seit Menschengedenken mannigfach verwandt aus Tier-, Muschel-, Tonhörnern erklungen sein mag, enthält deshalb alles: die Klage über die Gewalt des Krieges, auf den die Komponistin mit dieser Komposition ebenfalls reagiert, die Einsamkeit eines unbeantworteten Flehens aus der Ohnmacht, aber auch die Hoffnung auf Widerhall und Antwort, d. h. die Bitte – um Frieden oder Veränderung oder Gehör. Und in der Wiederholung die Versenkung ins Fragliche dieses Rufs. Wohin rufst Du? Kommt Antwort?

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Auswahl von neolithischen Tonhörnern des Künstlers André Schlauch

In dieser Haltung wird Musik fraglich wie ein Gebet. Wie die Musik muss auch das Gebet sich der Unwirksamkeit bezichtigen lassen. Es bringt nichts! Beten hat – zumindest im wissenschaftlichen Sinne – die Funktion der Funktionslosigkeit, der Versuch, seine Wirkung zu errechnen, wäre absurd, denn was ist eigentlich die Ursache? Aber Beten ist nicht vergeblich. Denn das Gebet verschließt nicht die Augen vor dem Leiden, vor der Malaise, ist keine Ausflucht oder Ablenkung. Als Frage ins Offene zielt es ins Herz der Schwierigkeiten. Ohne sie durch vorschnelle Parteinahme oder Lösungsvorschläge zu verzerren, gelingt dies gerade, weil Ausweglosigkeit ausweglos bleiben darf, weil Ohnmacht nicht bekämpft werden muss und Angst ausgesprochen werden kann.

Das Gebet umfasst ähnlich vielfältige Äußerungsformen wie die Musik. Von der Freude des Lobpreises bis zum bitteren Flehen und zur schmerzlichen Klage ist die Form des Gebets höchst differenziert und lässt sich doch im Fluchtpunkt der Frage zusammenfassen. Hier, im Fraglichen, changiert die Bedeutung wie bei Musik unablässig und bleibt dem Inhalt der Äußerung selbst gegenüber fast zweitrangig. Der Nachhall der Fragen trägt die Bedeutung, nicht die Fragen selbst. Diese Eigenart verbindet Gebet und Musik und offenbart die Absurdität einer Klimamusik, die auf Ebene von CO2-Kontingenten oder Artenschutz argumentieren möchte.

In diesem Blickwinkel verändern die hier angeführten Musikstücke ihren Charakter und strafen die „Thematik“ von Klima und Politik Lügen: Die hauchende Flageolett-Kantilene im hitzigen Chaos am Ende von „Icarus in Flight“ transportiert Ratlosigkeit und Verzweiflung ebenso wie Mahnung und Anklage – gilt dies nicht ebenso angesichts der Völkerrechtsverbrechen in Gaza? Der akustische Reichtum von „Bioluminescence“ ist Lobpreis und Dank, drückt aber auch Rätselhaftigkeit und Zweifel dem menschlichen Verstandesvermögen gegenüber aus. Ängstliches Flehen und die zerbrechlichste Hoffnung auf Frieden ist der allein hoch gesungene Endton der Sopranistin in „Kubrick’s Bomb“ – doch spricht dies nicht ebenso die Hoffnung auf eine menschenwürdige Natur, also einen naturwürdigen Menschen aus? Und die akustische Abbildung allgegenwärtiger Lebensprozesse wird zum Mantra der Erhabenheit, das uns nicht nur vor der Natur, sondern auch vor der Geschichte Ehrfurcht einflößen muss. Was genau wird wirklich beklagt, was gelobt und gehofft und vertieft? Jede Antwort verliert sich in den Unendlichkeiten der Aufzählungen, die ein:e jede:r von uns durch das eigene Hören und das gemeinsame Zusammenkommen der Musik aufprägen.

Im Gebet und in der Musik werden nicht Antworten gegeben, nicht auf die Klimakrise und nicht auf den Ukrainekrieg, sondern das Hören wird ausgesprochen, die Haltung des Hörens geäußert. Gebet und Musik werfen uns auf uns zurück, um die Lösung in uns zu lösen. Nicht als unendliche To-do-Liste von Maßnahmen, sondern als Sinn, aus dessen Fraglichkeit heraus wir schaffen und schöpfen können. Musik und Gebet sollen nichts. Das können sie, indem sie uns zu Sinnen bringen. Und ist es nicht das, was wir am nötigsten haben – dass wir zur Besinnung kommen?